Originell und sprachschön und mit liebenswerter Hauptfigur

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wolke44 Avatar

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Ali Benjamins Roman „Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren“ ist wirklich empfehlenswert. Als All-Age-Buch kann man es ohne Bedenken auch als Erwachsene lesen oder auch Erwachsenen schenken. Ich will damit sagen: Es unterfordert erwachsene LeserInnen nicht.

In dem Roman treffen wir Suzy, ein zwölfjähriges Mädchen, das das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wird. Es geht um Verlust, um Schuld, um Trauerarbeit und Loslassen. Das klingt jetzt nach einem fürchterlich „schweren“ Buch aber so ist das gar nicht. Suzy ist ein unfassbar intelligentes und kreatives Mädchen. Sie hat eine ganz eigene Form von „Trauerarbeit“ gefunden, die so gewitzt und originell ist, dass man ständig zwischen Grinsen und Schluchzen schwankt. Das macht das Buch sehr bewegt und bewegend. UND - das macht es auch zu etwas Besonderem.

Das Buch ist handwerklich erstklassig. Mir gefallen die vielen verschiedenen Textsorten, mir gefällt die Motivik, die sich von Anfang bis Ende durchzieht und wie ein Musikstück komponiert wird. Aber mir gefällt auch Suzy, ein ungeheuer liebenswerter Charakter – altklug, kauzig und so tief verletzbar. Und auch die Konflikte gefallen mir – hier meine ich gar nicht mal so sehr diese Schuldgeschichte, sondern vor allem den Verrat. Ich meine Suzys Erleben des Verrats der besten Freundin, ihre Unsicherheit, ihre Reaktionen darauf, die Gedanken dazu. Das ist eine große Stärke des Buchs – dieser Schmerz der Figur ist sehr spürbar. Und was mir ebenfalls wirklich gut gefällt, ist die Form des „magischen Denkens“, die Suzy entwickelt, diese Obsession, sie müsse nur den Grund für den Tod der Freundin finden, dann würde der Tod erträglich. Das alles ist wirklich toll gemacht.

Warum dann keine 5 Sterne?

Es hat zwei Gründe. Der erste: Suzy denkt, fühlt und reflektiert nicht wie ein zwölfjähriges Mädchen, auch nicht wie ein hochbegabtes zwölfjähriges Mädchen. Sie handelt, fühlt, reflektiert und denkt wie eine Kunstfigur, die eine Autorin geschaffen hat. Das ist leider ein echtes Problem. Ich persönlich spüre hier v i e l zu deutlich die Konstruktion und das Gewollte.

Anders gesagt: Für mich funktioniert die Perspektive leider ü b e r h a u p t nicht. Was sehr schade ist, weil es dem Buch in meinen Augen viel Kraft nimmt. (Und eben leider die Figur damit unglaubwürdig macht.) Es gäbe evtl. eine Möglichkeit, in der die Perspektive glaubhaft wäre: Wenn die Figur diese Geschichte als reife und erfahrene Erwachsene erzählt. Quasi rückblickend und erinnernd und eben durchwoben von der erwachsenen Haltung und dem erwachsenen Erfahrungshorizont.

Der zweite Grund ist, dass mir einfach „Geschichte“ fehlt – diese hier blieb sehr schmal, sehr auf die Leserwirkung berechnet, da war wenig, was über die Ränder ging, was scheinbar „funktionslos“ ist und die Geschichte nach mehreren Seiten hin auffalten könnte, sodass man eben einfach eintauchen könnte und auch mal das Gefühl hätte, eine Konstruktion zu verlassen. Ich glaube, mich stört einfach ein bisschen, dass so spürbar ist, wie die Autorin „baut“ und warum sie so baut – in meinen Augen ist zu sichtbar, was der Text beabsichtigt. Er lässt sich nicht fallen, geht kein Risiko ein, indem er einfach mal breiter erzählt, sondern die Funktion hinter jedem Textstück ist für mich zu sichtbar.

Da das Buch diese Meeres- und Quallen-Thematik hat, stand mir dauernd als Vergleich der (hervorragende) All-Age-Roman „Gefährliche Gezeiten“ von Jim Lynch vor Augen, der ebenfalls einen total liebenswerten Charakter, eine großartige Motivik, Sprachintensität und Originalität hatte, ABER einen glaubhaften jungen Erzähler und eben eine entfaltete Geschichte. „Gefährliche Gezeiten“ ist ein „irgendwie“ ähnliches Buch, aber in meinen Augen bedeutend gelungener, weil es zufälliger wirkt als „Die Wahrheit über Dinge, die einfach passsieren“, nicht so berechnend.

Dennoch ist Ali Benjamins Roman ein besonderes Buch, das hervorsticht und sich ernsthaft Mühe gibt mit Sprache, Figurengestaltung, Konflikten und der Art des Erzählens. Kein 0815-Buch, sondern etwas mit Stil. Absolut lesenwert!