Ein großes Gesamtbild aus kleinen Wahrheiten

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Melanie Raabes Debüt „Die Falle“ hat mir im Frühjahr sehr gut gefallen. Daher war sofort klar, dass ich auch den zweiten Roman der Autorin lesen werde. Zunächst sei allerdings gesagt, dass „Die Wahrheit“ ebenfalls kein richtiger Thriller ist, da die Autorin hier erneut ganz ohne blutige Szenen auskommt, sich dafür aber wieder vieles im Kopf abspielt. Wie schon bei ihrem Debüt zog sich auch in diesem Roman der Anfang etwas in die Länge und die Autorin leistet wieder einiges an Vorarbeit. Man braucht als einige Zeit, bis man als Leser vollkommen in der Geschichte ist. Hat man aber erstmal in den Roman gefunden, lässt er einen nicht mehr los. Kurze Kapitel animieren dabei perfekt zum Weiterlesen.

"Ich werde Menschen, die sich in die Vergangenheit flüchten – sei es in eine historische, sei es in eine private – nie begreifen. Ich finde die Unabänderlichkeit der Vergangenheit verstörend, und der Zukunft stehe ich mit tiefsten Misstrauen gegenüber. Die Gegenwart ist alles, was ich habe, und sie ist immer." S. 148

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Sarah, die eine starke und taffe Persönlichkeit ist. Als Protagonistin ist sie leicht zugänglich und direkt sympathisch, allerdings merkt man auch schnell, dass Sarah ein Geheimnis hat. Zwischendrin werden immer wieder Kapitel aus der Sicht des fremden Mannes eingeschoben, die die Spannung konstant oben hielten. In diesen Szenen versucht man herauszufinden, was der Fremde will, wie er tickt, was er vorhat. Zudem fand ich es sehr interessant, einige Dinge aus seiner Sicht präsentiert zu bekommen. Die Gedanken und Gefühle sowohl von Sarah als auch des Fremden sind dabei immer klar und nachvollziehbar beschrieben. Im Verlauf fragt man sich, wen von den beiden man denn nun trauen soll.

Melanie Raabe liefert in ihrem zweiten Roman wieder ein gekonntes Verwirrspiel, bei dem sie die Fragen laut ausspricht, die man sich als Leser selber stellt. Was will der Fremde, warum taucht er jetzt auf, was hat Sarah getan? Mit der Zeit kommt Sarahs Geheimnis an die Oberfläche. Man ist sich schnell sicher zu wissen, was der Fremde von ihr will. Doch die Autorin bietet zum Ende eine interessante Wendung und damit eine Auflösung, die man so nicht vermutet. Man kann an dieser Stelle bemängeln, dass das Ende etwas absurd, viel zu einfach gehalten oder – wie man so schön sagt – an den Haaren herbeigezogen ist. Aber überraschen kann die Autorin mit dem Ende trotzdem. Als Leser denkt man, es geht nur um die eine Wahrheit, die herausgefunden werden will, aber im Endeffekt ist es wieder dieses Gesamtbild, die vielen kleinen Wahrheiten, die ans Tageslicht kommen und den Roman dadurch so fesselnd machen.

ZUSAMMENFASSEND
Melanie Raabe hat mit ihrem zweiten Roman bewiesen, dass sie sich nicht hinter ihrem großartigen Debüt verstecken muss, sondern erneut eine Glanzleistung abliefern kann. Auch wenn man erneut einige Zeit braucht in den Roman zu finden, so ist „Die Wahrheit“ wieder ein großes Gesamtbild, welches aus kleinen Wahrheiten besteht und das spannend und fesselnd ist. Man wird dieses Buch erst weglegen können, wenn man alles über Sarah und den Fremden erfahren hat. Zwar ist das Ende vielleicht etwas fragwürdig, dennoch beschert Melanie Raabe einem spannende Lesestunden, bei dem sich wieder gekonnt vieles im Kopf des Lesers abspielt.