Dieses Buch geht unter die Haut!
Dieses Buch geht unter die Haut. Es frisst sich mit so vielen Sätzen in mich hinein, dass ich es kaum ertragen und gleichzeitig nicht loslassen wollte. Vigdis Hjorth hat mit "Die Wahrheiten meiner Mutter" (aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs) ein Stück Literatur geschaffen, wie ich zuvor kein anderes las. Johanna heiratete jung und fügt sich in ein Familienleben, vom dem ihr damals noch nicht klar war, dass es nicht ihrem Lebensentwurf entspricht. Als sie sich entscheidet, einen Malkurs zu machen, lernt sie einen Kunstlehrer kennen, der ihre Welt aus den Angeln hebt. Sie verlässt ihre Familie und folgt ihm nach Utah. Sie wird glücklich mit ihm und wird auch recht schnell eine berühmte Künstlerin. Ihre Familie jedoch kann das nicht verstehen. Der Kontakt bleibt minimal bestehen, doch als Johannas Vater stirbt und sie die Beerdigung nicht besucht, wird der Kontakt von ihrer Mutter und ihrer Schwester beendet. Zugleich fühlten diese sich von einer Bilderserie Johannas über Mutter und Kind zutiefst getroffen. Dreißig Jahre nach dem Bruch wird Johanna in Oslo eine Retrospektive ihrer künstlerischen Arbeit gewidmet. Ihr Mann ist bereits gestorben, sie ist nun ungebunden und entscheidet sich, nach all den Jahren nach Norwegen zurückzukehren, in die Stadt ihrer Familie. Und mit der Rückkehr kommen auch die Gedanken zurück zu dem Bruch, dem Unverständnis, der Lieblosigkeit. Sie zieht sich in eine Hütte im Wald zurück und überlässt sich ganz ihren Gedanken. Wir folgen ihr in ihrem inneren Monolog und ihrer Auseinandersetzung. Sie beginnt, den Kontakt zu ihrer Mutter zu suchen - doch diese blockt ab. Das kann sie nicht ertragen, also beginnt sie, mit dem Auto um das Haus der Mutter zu fahren. Sie möchte doch ihre Mutter gerne einmal sehen. Sie macht sich Gedanken, was in den dreißig Jahren mit ihrer Mutter passiert sein könnte, wie sich ihre Gedanken und Gefühle vielleicht entwickelt haben - genauso wie die ihrer Schwester. Stück für Stück wird ein Bild ihrer Kindheit deutlich, ihrer Rolle als Frau, Ehefrau und Mutter. Sie beginnt auch zu verstehen, wieso ihre Mutter manchmal nicht nachvollziehbar gehandelt hat und wie das ihr Verhältnis zueinander beeinflusst hat. Mit fortschreitendem Text wird die Gedankenspirale zur Kontaktaufnahme immer intensiver, drängender, das Bedürfnis nach Kontakt wird körperlich spürbar. Und zugleich wird das Verständnis immer klarer. Das ist sprachlich eindrücklich gemacht, als Leserin bin ich ganz nah an Johannas Emotionen und Gedanken, absolut glaubwürdig und intensiv. Und gleichzeitig wird auch die Natur um Johannas Hütte beschrieben, als Gegenpol zu ihrem aufgeregtem Innenleben.
Ein wahnsinnig tolles Buch, das fast ohne Dialoge auskommt. Lesenswert, aber nicht einfach!
Ein wahnsinnig tolles Buch, das fast ohne Dialoge auskommt. Lesenswert, aber nicht einfach!