Intensive und sehr lesenswerte Introspektion einer Mutter-Tochter Beziehung

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Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft alles unaufhaltsam auf den einen Endpunkt zu.

Auf der äußeren Handlungsebene gibt es Johanna, die Ich-Erzählerin, eine ältere Künstlerin, die nach 30 Jahren in den USA in ihre norwegische Heimatstadt zurückgekehrt ist. Sie verließ damals zusammen mit einem anderen Mann ihre Ehe, ihre Familie und die Enge ihrer Herkunft um in den USA eine neues und anderes Leben zu beginnen. Mit ihrer Mutter verbindet sie seit der Kindheit ein sehr kompliziertes und schwieriges Verhältnis, das sie in ihrer Kunst in den USA verarbeitet. Das stößt beim Rest der Familie auf Unverständnis und Ablehnung und seitdem ist der Kontakt zur Mutter abgebrochen.

Auf der inneren Handlungsebene gibt es aber auch Johanna, in der, inzwischen selbst seit langem Mutter, noch immer das kleine verletzte Kind steckt, das sich nach der Nähe und der Liebe seiner Mutter sehnt.

Nach 30 Jahren wieder zurück in Norwegen drängen sich diese vergessen geglaubten Gefühle an die Oberfläche und die Erzählerin verstrickt sich zunehmend in Spekulationen über das Leben ihrer Mutter. Das obsessive Nachdenken über den Tagesablauf und die Beziehung der Mutter zu ihrer anderen Tochter Ruth nehmen sie immer mehr gefangen. Bald verfolgt, ja stalkt, sie ihre Mutter richtiggehend, ruft sie an, hofft auf eine zufällig Begegnung.

Doch die Mutter reagiert nicht und verweigert jede Kontaktaufnahme…

Vigdis Hjorth erforscht in ihrem introspektiven Roman dieses Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Gibt es ein Recht auf die Liebe einer Mutter?
Es rührt mich, wie diese lebenserfahrene Frau sich in ihrem Innersten noch immer nach der nie erreichten Liebe ihrer Mutter verzehrt. Wie sie an diesen nicht aufgearbeiteten Gefühlen leidet, ihr die Sicherheit entgleitet. Wie sie sich noch immer verletzten lässt.
Hjorth vermeidet dabei Pauschalisierungen und Schwarz-Weiß Malerei. Die Rolle der Bösen bleibt unbesetzt. Stattdessen zeigt sie die komplexen Ambivalenzen in dieser so wichtigen und usprünglichsten Verbindung zwischen Eltern und Kind.

Vor allem aber zeigt Hjorth, wieviel Macht diese Verbindung über uns haben kann, wenn wir es zulassen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ war für mich ein großer, rauschhaft gelesener, intimer Roman, der für mich viele persönliche Berührungspunkte hatte. Hat mich bewegt und mir sehr gefallen!