Selbstmord, Meeresluft und Geigenspiel

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
marapaya Avatar

Von

Selten habe ich einen Roman gelesen, in dem so viele Menschen ständig vom Selbstmord gesprochen haben wie in diesem Buch von Milena Agus. Und dennoch war mir immer, als wehte eine leichte, sonnige Brise durch die Zeilen und die Köpfe der Figuren.
Alice ist Literaturstudentin und wohnt in einer Wohnung am Hafen von Cagliari auf Sardinien. Die Wohnungen in dem schönen Haus sind sehr ungleich was Größe, Helligkeit und Ausblick angeht, das spiegelt sich auch in den Leben ihrer jeweiligen Bewohner wieder. Alice wohnt in der mittleren Etage des Hauses und sieht sich plötzlich als Vermittlerin zwischen den ungleichen Parteien. Der etwas weltfremde Signore von ganz oben wurde von seiner Frau verlassen und braucht Hilfe im Haushalt. Die Signora von ganz unten aus der kleinen, dunklen Wohnung ist da genau die Richtige, wie Alice findet. Sie führt die beiden zusammen und erschließt sich damit ganz unverhofft eine Welt, in der sie sogar so etwas wie eine neue Familie findet.
In Milena Agus Roman vermischen sich vermeintlich sehr unterschiedliche Leben plötzlich miteinander, die eigentlich schon lange unter dem selben Dach wohnen. Es ist ein bunter Figurenreigen, in der die Charaktere doch viel mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Überhaupt hat Milena Agus eine große Begabung darin, ernste Themen und traurige Schicksale in ein leichtes, dennoch tiefgründiges Gewand zu verweben. Ihre Ich-Erzählerin Alice fühlt sich in Cagliari sehr wohl, sie gewinnt so Abstand zu ihrer Vergangenheit als Kind eines Selbstmörders und einer darüber verrückt gewordenen Mutter. In ihrem Heimatdorf hatten alle Angst, dass das Unglück der Familie abfärben könnte und Alice konnte einzig in Büchern echte Freunde finden. Anna, die Signora von unten verdient sich ihren Lebensunterhalt als Putzfrau und dürfte eigentlich gar nicht mehr arbeiten, droht doch jederzeit ihr Herz stehen zu bleiben. Ihre Tochter Natascha hat einen Uniabschluss summa cum laude, findet allerdings nur als Verkäuferin eine Anstellung und hat panische Angst, ihren Verlobten an eine andere Frau zu verlieren. Ängste und Sorgen treiben die Bewohner um, gleichzeitig sind sie warmherzig, liebenswürdig und wollen die Hoffnung an ein gutes Leben nicht aufgegeben. Inwieweit sich diese Hoffnungen erfüllen, darüber kann sich der Leser nie ganz sicher sein, zu sehr vermischt sich zum Ende des Romans der Plot mit dem ersten schriftstellerischen Ausprobieren der Ich-Erzählerin.
Die große Stärke des Romans ist das ganz eigene Erzählen der Autorin. Jeder Figur gewinnt sie auf eine absolut glaubwürdige Art und Weise eine positive Seite ab. So lässt sie Alice erkennen: „Inzwischen glaube ich, wenn man will, dass ein Mensch einem unsympathisch bleibt, muss man um jeden Preis verhindern, dass man ihn näher kennenlernt.“ Das gilt auch für die Romanfiguren. Wir Leser werfen erst einen kurzen Blick auf sie, lernen sie Seite für Seite besser kennen und können nicht anders, als sie mit all ihren verschrobenen Eigenheiten zu mögen. Mit leisem Bedauern nehmen wir auf der letzten Seite Abschied von den neu gewonnen Freunden auf Sardinien.