Die Scharfsinnigkeit der Maria Dolors

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naraya Avatar

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Nach einem Schlaganfall kann die 85-jährige Dolors von einem Tag auf den anderen nicht mehr sprechen. Und so passiert das, was ihre beiden Töchter schon seit Jahren von ihr verlangt haben: Dolors zieht bei ihrer jüngeren Tochter Leonor und deren Familie ein. Aus einem Sessel in der Ecke, das Strickzeug auf den Knien beobachtet sie genau, was um sie herum geschieht. Denn nur, weil Dolors nicht mehr sprechen kann, ist sie noch lange nicht schwachsinnig...

Dolors ist ein Charakter, für den man von der ersten Zeile an Sympathie empfindet. In ihren alten Körper ,eingesperrt wie in ein Gefängnis, wohnt noch immer ein wacher Verstand. Und gerade weil ihre Familie ihr nichts mehr zutraut und sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt, lernt Dolors nach und nach jedes noch so kleine Geheimnis der Familienmitglieder kennen. Ob es ihre Tochter Leonor ist, die in ihrer Ehe unglücklich ist, die Enkelin Sandra, die magersüchtig ist und sich in den falschen Jungen verliebt hat. Oder Jofre, den unsäglichen Philosophielehrer, den Dolors sowieso nie als ihren Schwiegersohn wollte und der zu allem Überfluss nun Leonor vor den Augen ihrer alten Mutter betrügt - Dolors durchschaut sie alle. Nur Martí, Dolors Enkel, bemerkt, dass seine Oma keinesfalls dement ist. Und so versucht er vorsichtig, beinahe zärtlich sie in die große Welt der virtuellen Realität zu entführen.

Dolors Bemerkungen und Beobachtungen sind so amüsant wie scharfsinnig. Sie erkennt, dass Leonor mit der Erziehung ihrer Tochter überfordert ist und deren Probleme gar nicht bemerkt. Ihre Gedanken und Ratschläge, die sie ihrer Familie am liebsten entgegenschreien würde, sind passend und klug. Auch von Dolors Vergangenheit erfahren wir in den Gedankenreisen, die sie jeden Tag von ihrem Sessel aus unternimmt: wie sie den falschen Mann heiratete, vom Coming-Out ihrer zweiten Tochter Teresa und vom Leben in der Klosterschule. Ihre Erzählungen sind authentisch, ehrlich, aber immer mit einem zwinkernden Auge und einem Lächeln auf dem Gesicht.

Ich bin sicher, dass der Pullover für Sandra nicht Dolors einziges Projekt bleiben wird!