Ambitionierte Charakterstudie zweier herausfordernder Frauen und ein intensives Plädoyer für Bildung

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alekto Avatar

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In 1998 ist Alicia erst dreizehn Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter Carmen, ihrem Vater und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Eva in einer großen schicken Wohnung in Cordoba. Jeder hat seinen eigenen Fernseher und Alicia hat für jeden Schultag ein anderes Paar an Marken Turnschuhen so wie ihre Mutter eine Sammlung an Pumps hortet. Denn die Familie scheint vermögend, da Alicias Vater, der so wie ihre Mutter aus einfachen Verhältnissen stammt, nun mehrere Restaurants besitzt. Es ist der Tag, an dem Alicias Vater nach einem Unfall verheddert und aufgehangen in den Gurten seines Wagens aufgefunden wird. Ist ihr Vater wirklich bei einem Unfall gestorben oder haben die Stimmen, die hinter vorgehaltener Hand von Selbstmord reden, recht? Und wie geht es nun mit Alicia und der ihr verbliebenen Familie weiter?

Die Ereignisse des Tages, an dem Alicias Vater stirbt, werden von Elena Medels ungewöhnlicher Art zu erzählen geprägt. Primär werden diese aus Sicht von Alicia geschildert, sind aber zugleich auch durchdrungen von Alicias Gedanken, wie dieser Tag von ihrem zwanzig Jahre älteren Ich wahrgenommen werden wird. Teilweise werden Alicias Erinnerungen dadurch korrigiert, dass diesen der tatsächliche Wortlaut dessen, was ihre Mutter Carmen gesagt hat, oder die Erinnerung ihrer Schwester Eva gegenübergestellt wird. Durch die anderen Blickwinkel wird Alicias Sichtweise relativiert und die Autorin verdeutlicht, dass Wahrheit im Auge des Betrachters liegt und wie sich Erinnerungen im Laufe der Jahrzehnte ändern können. Dabei wechseln die Blickwinkel so fließend hin und her, dass ich beim Lesen genau aufpassen und mich ganz auf diesen eigenwilligen Erzählrhythmus einlassen musste, um folgen zu können. Das hat mich an den Episodenfilm Babel erinnert, der die ihm eigenen, verschiedenen Handlungssträngen nicht klar voneinander abgegrenzt hat, sondern fließend anhand von Assoziationen, Farben oder Gefühlen ineinander hat übergehen lassen. So verwebt auch Elena Medel die verschiedenen Sichtweisen von Alicia, ihrer Mutter Carmen, ihrer Schwester Eva, ihren Klassenkameradinnen Celia und Inma zu einem so einzigartigen wie stimmigen Ganzen, in dem sich verschiedene subjektive Wahrheiten nicht ausschließen, sondern ergänzen.
Die scharfsinnige Celia und die naive Inma sind an dem Tag, an dem Alicias Vater stirbt, bei ihr Zuhause zu Besuch, um gemeinsam an einer Hausaufgabe zu arbeiten. Beide stammen aus armen Verhältnissen und haben selten so einen Reichtum gesehen, wie ihn Alicias kleine Schwester Eva zur Schau stellt. Das prägt auch das Leben von Celia und Inma, die Freundinnen bleiben und immer wieder auf diesen Tag zurückblicken werden. Jahrzehnte später wird Celia Inma in einer E-Mail ihren Neid auf all die prächtigen teuren Dinge, die sie bei Alicia Zuhause gesehen haben, gestehen. Die vielen Fernseher, die so teuren wie feinen Parfüm Flakons, aber auch die Markenkleidung von Alicia und ihre Turnschuhsammlung. Und diese E-Mail hat den gleichen Betreff wie der Titel des Romans: "Die Wunder".

Der Roman wird abwechselnd aus Sicht von Carmens Mutter Maria und Carmens Tochter Alicia erzählt. So ist Carmen stets präsent, da sie von außen betrachtet wird, ohne dass ihr eigener Blickwinkel mehr als nur am Rande mit einfließen würde. Für die 13jährige Alicia ist ihre Mutter eine Frau mit Stil, die stets auf ihr Äußeres achtet und sich sogar vor ihren Töchtern Zuhause nie ungepflegt zeigt. Marias - bis auf das erste Kapitel - chronologisch erzählte Lebensgeschichte beginnt im Jahr 1969, als Carmen noch ein Baby ist. Carmen ist Maria da schon fremd, da sie ihr Baby zurücklassen musste, um bei einer wohlhabenden Familie deren Kinder zu hüten. Ihr Baby ist zwar nicht hübsch oder niedlich, aber schlau, riecht nun nach Zigaretten, wenn sie nach Hause kommt, und sagt zu Marias Bruder Chico Mama. Onkel Chico spielt auch später noch eine wesentliche Rolle in Carmens Leben, da sie ihn anruft, um nach ihrem Mann zu suchen, als dieser verschwunden ist, und als Carmens Mann tot aufgefunden wird, hilft Chico ihr.
Das erste Kapitel des Romans ist für mich eine Herausforderung gewesen. Da dieses in kurzer Folge wechselnd die Ereignisse DES Tages aus Sicht von Alicia und ihrer Großmutter Maria schildert, hat Elena Medel mich mitten ins Geschehen hineingeworfen. Zu diesem Zeitpunkt erschienen mir insbesondere die Gedankengänge von Alicia verworren und nach diesem ersten Kapitel habe ich nicht mehr als einen ersten Eindruck vom Leben von Maria und eher eine Ahnung vom Leben von Alicia gewonnen. Dies klärte sich dann aber im weiteren Verlauf des Romans auf, da nach dem ersten Kapitel chronologisch aus Sicht von Maria und von Alicia erzählt wird. Marias Kapitel beginnen im Jahr 1969, als sie in einer anderen Stadt arbeitet und ihre Tochter Carmen noch ein Baby ist. Alicias Kapitel starten im Jahr 1998 an dem Tag, als ihr Vater stirbt.

Dabei habe ich Maria als weit sympathischer empfunden. Für mich ist sie ein Opfer schwieriger Umstände gewesen, als sie zu jung Mutter geworden ist und dann auch noch ihr Baby zurücklassen musste, weil der Vater ihrer Tochter ihr eine Stelle in einer anderen Stadt besorgt hat. So ist Carmen von Marias Eltern und ihren Geschwistern groß gezogen worden, die auf das Geld angewiesen sind, dass Maria nach Hause geschickt hat. Maria ist eine kluge Frau, die zwar früh die Schule abgebrochen hat, um als Näherin zu arbeiten, und auch später nur Jobs als Kindermädchen, Pflegekraft oder Reinigungskraft hatte, ihre freie Zeit aber mit intellektuellen Filmen, anspruchsvollen Büchern und dem Aufbau der ersten Frauengruppe in der Bürgerinitiative verbringt. Tragisch ist, wie Maria unter der zwar verständlichen Ablehnung ihrer Tochter leidet und wie Maria sich ihre Tätigkeit als Reinigungskraft schön zu reden versucht. Stark ist sie darin, wie sie sich ihr kleines Stück Unabhängigkeit erkämpft, indem sie spart, rechnet und plant, so dass sie sich schließlich eine eigene kleine Wohnung mit ihrem Sofa, ihrem Bücherregal und ihren eigenen Büchern leisten kann.
Mit Alicia dagegen habe ich mir schwer getan. Alicia ist schon vor dem Tod ihres Vaters, von dem sie nachts träumt, oft grausam gegenüber anderen Kindern gewesen. Da hat sie etwa zwei Klassenkameradinnen zu sich nach Hause eingeladen, vorgeblich um mit den beiden an einer Collage für die Schule zu arbeiten, die in einem Dreier-Team erstellt werden musste, doch eigentlich nur, um die beiden aus armen Verhältnissen stammenden Mädchen zu demütigen. Der Tod ihres Vaters dient Alicia später als Ausrede für ihre grausamen Neigungen, ihren Mangel an Empathie und ihr einzelgängerisches Dasein. Irritierend wirkte auf mich auch Alicias Angewohnheit das Verhalten anderer zu imitieren. So belauscht sie etwa andere Frauen in der Schlange bei Primark, um sich deren Verhaltensweisen und Gedankengänge abzuschauen. Diese wiederholt sie dann, um etwas vorzutäuschen, was sie nicht ist und nie sein wird, ja nicht einmal versteht. Meiner Ansicht nach hat Elena Medel Alicia als Charakter mit antisozialen, vielleicht sogar soziopathischen Tendenzen angelegt. Insofern ist nicht wirklich verwunderlich, dass ich mich mit Alicia schwer getan habe, sondern wohl eher so von der Autorin gewollt.

"Die Wunder" liest sich für mich nicht nur als Charakterstudie zweier herausfordernder Frauen, sondern auch als Bildungsroman. Denn im Laufe des Romans verdeutlicht die Autorin, was aus Maria und Alicia hätte werden können, wenn ihnen andere finanzielle Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Alicia ist intelligent und kann eine hervorragende Schülerin mit besten Noten sein, wenn sie es darauf anlegt. Wenn ihr so früh verstorbener Vater der Familie nicht nur Schulden hinterlassen hätte, hätte Alicia eine teure Privatschule besucht, BWL studiert und eine Stelle im Familienbetrieb übernommen.
Maria ist früh nicht mehr zur Schule gegangen, um mit ihrer Schwester Zuhause als Näherin zu arbeiten, weil ihre Familie auf das Geld angewiesen gewesen ist. Maria wird den armen Verhältnissen, aus denen sie stammt, ein Leben lang nicht entkommen, wenn sie auch später im Armenviertel leben und einfachen Tätigkeiten nachgehen wird. Im Zusammenhang mit der Bürgerinitiative zeigt die Autorin, welche Möglichkeiten Maria hätte haben können. Dort gibt ihr Lebensgefährte Marias kluge Gedanken, die sie lange nur ihm gegenüber Zuhause äußert, als seine eigenen aus und brüstet sich damit. Darüber wie Maria gemeinsam mit anderen dann die erste Frauengruppe in der Bürgerinitiative aufbaut, hätte ich gerne mehr erfahren, als in dem gut zweihundert Seiten starken Roman berichtet wird.