Geschichte Spaniens - der Frauen

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frischelandluft Avatar

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Sie ist abgelenkt, heißt es schon auf der zweiten Seite. Und so ist auch der Stil. Mal hüpft der Erzähler von einem Gedanken zum nächsten, geschachtelte Nebensätze, ich stolpere als Leser und bin doch gleich hineingezogen in Alicias Kopf. Ein bisschen verwirrt, mal Gefühl, mal Verstand, mal Fetzen, mal eine Außenperspektive, bei der nicht klar ist, ob Alicia so denkt oder der Erzähler wieder Abstand nimmt. Das liest sich nicht immer flüssig, aber sehr spannend. Alicia ist kinderlos, verweigert Kinder, eine ihrer wenigen Rebellionen gegen die Erwartungen ihrer Umgebung. Sie ist verheiratet, eingebunden in den Trott, Arbeit, Ehemann, Treffen mit seinen Freunden, mehr oder weniger regelmäßige sexuelle Eskapaden. In der Öffentlichkeit ist sie Teil eines Paares, einer „unteilbaren Einheit [in der] ihr Name seinen Eigenwert verliert und nur in Verbindung mit dem anderen Bedeutung hat“.
Alicias Leben existiert parallel zu dem ihrer Großmutter in Madrid, sie kennen sich nicht. Es ist spannend, wie Leben und Alltag der beiden Frauen parallel, aber nicht linear erzählt werden, wie sie über die eigene Situation reflektieren. Was hat sich im Vergleich ihrer Lebenswege verändert, was nicht? Die Großmutter Maria, die ältere Frau, engagiert sich mit zunehmendem Alter in Bürgerinitiativen und lebt in der Gemeinschaft von Frauen auf, nachdem sie neben ihrem Mann stumm geblieben war, "denn alles war ich mit meiner Stimme hätte sagen können, klang in seiner besser." Es geht um Emanzipation, um Rollen, um Freiheit, um Hinterfragen und darum, eine Stimme zu finden. Beide Frauen geben nicht auf, sondern kämpfen weiter, erringen ein paar Erfolge. Der Roman umfasst fast 50 Jahre, in denen sich nicht wirklich viel verändert hat. Zumindest nicht für die Protagonistinnen dieses Romans, denn ihnen fehlt der Grundstock für alles, was ihr Leben ändern könnte: Geld. Geld bedeutet Macht, nicht nur zwischen Gesellschaftsschichten, sondern auch in der Rollenverteilung von Mann und Frau.
Ich lese am liebsten Romane von Frauen über Frauen aus anderen Kulturen, Zeiten, Generationsgeschichten, Kulturgeschichte aus der Sicht der Frau, dieser Roman passt total ins Thema und ist sehr gut geschrieben. Er öffnet für mich ein paar Fragen: Ich habe das Glück, im Wohlstand groß geworden zu sein und zu leben und das emanzipiert und mit der Freiheit, alle Entscheidungen selbstständig treffen zu können. Ich bin mir bewusst, dass die Situation von Frauen in Westeuropa besser ist, als in den meisten anderen Gegenden der Welt. Ist Spanien anders als Deutschland/Österreich oder geht es Frauen ohne Geld in diesem Land ähnlich wie den Spanierinnen? Zeit, genauer hinzusehen. Manchmal wechselt der Erzähler im Roman, man ist sich nicht sicher, wer erzählt. Aber es sind definitiv die Frauen, denen Mendel Gehör verschafft. Ihr Mantra, nicht aufzugeben, es lohnt sich.