Ein Roman in Moll

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lovely_lila Avatar

Von

* Spoilerfreie Rezension! *

~ Ein ernstes, pessimistisches Buch, das die Probleme unserer Gesellschaft treffend skizziert und besonders auf das Problem der Herkunft eingeht, die sich nicht abschütteln lässt. Der Schreibstil von Karine Tuil ist kühl, anspruchsvoll, und sprachlich ein Genuss; die ruhelosen Protagonisten sind nicht immer sympathisch, aber sehr glaubwürdig beschrieben, so dass man ständig wissen möchte, wie es ihnen weiterhin ergeht. Der Schluss ist rund und wunderschön, er bleibt lange im Gedächtnis, und regt, wie das ganze Buch, auch nach der Lektüre noch zum Nachdenken an. ~

Inhalt

Karine Tuil verbindet in ihrem Roman nach und nach die Leben und Schicksale dreier ganz unterschiedlicher Menschen: François Vély ist ein reicher, bekannter Manager, Osman Diboula ist ein aufstrebender junger Politiker und Romain Roller ist Soldat in Afghanistan. Sie alle zeichnen sich durch eine gewisse Ruhelosigkeit aus – ständig sind sie auf der Suche, nach Macht, Liebe, Einfluss, einem besserem Job, mehr Geld oder Adrenalin. Auf dem Weg zu ihrem Ziel sind sie bereit, vieles zu opfern, manches verlieren sie auch ganz unerwartet…

Informationen

Erzählstil: überwiegend Personaler Erzähler; Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus männlicher Sicht
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz


Meine Meinung

Einstieg & Schreibstil

Der Einstieg fiel mir nicht wirklich leicht. Das liegt vor allem daran, dass es zu Beginn dauert, bis man sich von den verschiedenen Erzählsträngen und Protagonisten ein Bild gemacht hat, und daran, dass der Schreibstil für mich im Vergleich zu meiner üblichen Freizeitlektüre ungewohnt anspruchsvoll war. Die kurzen Kapitel erleichtern jedoch diese erste Phase erheblich. Nach einigen Seiten gewöhnt man sich an den komplexen Satzbau und die gehobene Wortwahl, und sobald man hineingefunden hat, ist der Schreibstil wirklich ein Genuss. Jedes einzelne Wort steht an der richtigen Stelle, es gibt keine Wortwiederholungen, und so manches neue Wort kann man hier bestimmt noch dazulernen. Karine Tuil hat einen ungewohnt nüchternen, kühlen, aber erstklassigen Schreibstil, mit dem sie den Leser verwöhnt.

Personen

Es dauert einige Seiten, bis man die Protagonisten einzuschätzen weiß. Das liegt an den kurzen Kapiteln, durch die man immer nur bruchstückhaft Details aus dem Leben der Figuren erfährt. Bis zum Ende des Buches bleibt allerdings eine gewisse Distanz bestehen, richtig warm wurde ich mit den meisten Personen nicht. Das liegt nicht nur am nüchternen, Schreibstil, der relativ ruhig und unaufgeregt die dramatischen Erlebnisse im Leben der Figuren schildert, sondern auch an den Personen, die nicht wirklich mit Sympathie glänzen. Obwohl ich viele ihrer Handlungen verstehen konnte, hat mich ihr Egoismus und ihr rücksichtsloses Streben nach Macht streckenweise wirklich angewidert. Das ging jedoch nie so weit, dass ich die Lust am Lesen verloren hätte, denn ihre Motivationen wurden gut und nachvollziehbar erklärt. Dennoch wird man in diesem Buch wahrscheinlich kaum Lieblingsfiguren finden, an die man sich noch Jahre später mit einem warmen Gefühl im Bauch erinnert. Ein Beispiel: Der erfolgreiche Manager François Vély erklärt, dass er „zur Zerstreuung“ mit seiner Frau in Afrika auf Löwenjagd war. Wenn Menschen, die im Überfluss leben, zur Zerstreuung töten, dann braut sich Wut in meinem Bauch zusammen. Vielleicht, weil die Autorin auch hier wieder treffend die traurige Realität einfängt.

Idee & Themen

Viele Ideen, zahlreiche Probleme und wichtige Thematiken hat die Autorin in dieses Buch gepackt. Sie thematisiert subtilen, versteckten Rassismus, Sexismus, das Streben nach Macht und wie diese die Menschen verändern kann, Krieg, Geld, Religion, Verlust, Hoffnungslosigkeit, Liebe und, ganz wichtig, unsere Herkunft / Vergangenheit und wie sie anscheinend immer an uns kleben bleibt. Vor allem Letzteres wird im Buch ausführlich behandelt, denn den Figuren gelingt es nicht, ihre Herkunft „abzuschütteln“ und hinter sich zu lassen. Im Gegenteil, ihr Leben scheint durch sie ständig beeinflusst – mit allen negativen Konsequenzen. Die Themen, die Karine Tuil behandelt, behandelt sie mit der nötigen Ernsthaftigkeit, und trotz des eher nüchternen Schreibstiles zeichnet sie ein eher trauriges, trostloses Bild der französischen Gesellschaft. Diese Ruhelosigkeit unserer Zeit, dieses ständige Streben nach mehr Macht, Geld, Adrenalin, Glück oder Einfluss wird in diesem Roman wunderschön dargestellt. Wäre dieses Buch ein Lied, wäre es bestimmt in Moll geschrieben.

Besonders loben möchte ich, wie gründlich die Autorin recherchiert und sich auf das Buch vorbereitet hat. Das wird nicht nur durch die Liste der verwendeten Werke deutlich, sondern auch durch die vielen Zitate und Informationshäppchen, die sie mit Leichtigkeit in die Geschichte einwebt, so dass ein schlüssiges, sehr gut gelungenes Ganzes entsteht.

Spannung

Sobald man einmal ins Buch gefunden hat, will man ständig wissen, wie es weitergeht. Die 500 Seiten ziehen sich überraschenderweise nie.


Mein Fazit

Ein ernstes, pessimistisches Buch, das die Probleme unserer Gesellschaft treffend skizziert und besonders auf das Problem der Herkunft eingeht, die sich nicht abschütteln lässt. Der Schreibstil von Karine Tuil ist kühl, anspruchsvoll und sprachlich ein Genuss; die ruhelosen Protagonisten sind nicht immer sympathisch, aber sehr glaubwürdig beschrieben, so dass man ständig wissen möchte, wie es ihnen weiterhin ergeht. Der Schluss ist rund und wunderschön, er bleibt lange im Gedächtnis, und regt, wie das ganze Buch, auch nach der Lektüre noch zum Nachdenken an.

Meine Empfehlung: Für alle, die Lust auf etwas Anspruchsvolleres haben, das zum Nachdenken anregt.

Bewertung:

Idee & Thematik: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 4 Sterne
Spannung: 5 Sterne
Regt zum Nachtdenken an!


Insgesamt:

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Dieser zurecht gelobte Roman erhält von mir fünf Sterne!