Besonderer Debütroman, der nachdenklich stimmt

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lynas_lesezeit Avatar

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Ungewöhnliche Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit mit Schicksal einer Roma-Familie und den Folgen für Nachkriegskinder. "Die Zeit der vergessenen Kinder" von Charlotte Kliemann ist ein komplexer, vielschichtiger Roman, den man mit Bedacht lesen sollte.

Dieses Buch ist wirklich etwas Besonderes. Ein Aspekt ist, dass die Verfolgung der Volksgruppen der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten thematisiert wird. Ich war mir dessen zwar bereits bewusst, es ist aber leider selten Thema in Romanen. Umso schöner und wichtiger finde ich, dass es hier um ein Roma-Mädchen geht und ihre Erlebnisse sehr intensiv dargestellt werden. Für mich macht es einen besonderen Reiz aus, dass in diesem Buch einmal diesen verfolgten Menschen Raum gegeben wird.

Ein weiterer Aspekt ist der ungewöhnliche Schreibstil. Über allem liegt eine leichte Schwere und so manche Schilderung ist verschwommen und bietet viel Raum für Fantasie. Es wird viel mit Andeutungen gearbeitet, so dass ich bis zum Schluss überlegt habe, ob es noch einige Konkretisierungen gibt. Dies ist auch größtenteils erfolgt, jedoch bleibt auch einiges offen. Dies jedoch auf eine stimmige Weise, die sich gut in die Gesamthandlung einfügte. Die Ausdrucksweise ist stellenweise wirklich besonders und einzigartig. Einige Sätze und Schilderungen weisen eine große Tiefe und Komplexität auf, so dass es sich innezuhalten lohnt. Diesen Roman sollte man nicht mal eben schnell nebenbei lesen, sonst geht viel verloren.

Sehr interessant und nachdenklich stimmend, ist auch die über allem stehende Frage, wie die Nazizeit die nachfolgenden Generationen und auch jeden einzelnen von uns heute noch beeinflusst. Verdeutlicht wird dies durch die Erzählung in zwei Handlungsebenen. Die Geschichte des Roma-Mädchen Rubinas während des Zweiten Weltkrieges und die ihres Sohnes Martins und seiner Liebe Claudia im Jahr 2008. "Ich saß hier neben dieser alten, verwitterten Frau, die einmal meine Mutter gewesen war und der Dreh- und Angelpunkt meines Fühlens und die mich eines Tages gezwungen hatte, jedes Gefühl zu ihr in mir zu ersticken." Dieser Satz hat mich sehr beeindruckt. Das macht so deutlich, wie sehr uns unsere Familien prägen und was solche frühen Erlebnisse für einen großen Einfluss auf das weitere Leben haben können.

Die Geschichte packt mich, dennoch empfand ich immer eine leichte Distanz zu allem. Es wirkt ein bisschen, als würde man abseits stehen und das Geschehen nüchtern betrachten. Das mag zum Einen daran liegen, dass Martin und Claudia selbst nicht in der Lage zu sein scheinen, sich ihren Emotionen anzunähern und diese zuzulassen. Zum Anderen trägt der Schreibstil, die Erzählweise dazu bei. Durch die häufigen Andeutungen bleibt einiges eher wage und erfordert eigene Interpretationen. Dadurch entsteht kein leichter Lesefluss. Mit den Personen wurde ich nicht warm, aber ich vermisste auch nichts, weil es dennoch sehr bewegend war, ihr Schicksal zu sehen. Die Schilderungen haben interessante Denkanstöße geliefert. Das Buch ist wirklich voller Komplexität mit ganz besonderen Passagen und Gedankengängen. Es beeindruckt mich, wie vielschichtig und tiefgründig die Schilderungen sind. Die Charaktere haben Makel, machen Fehler, sind manchmal einfach nicht liebenswert. Aber das macht die Geschichte umso wertvoller und interessanter.

"Die Zeit der vergessenen Kinder" von Charlotte Kliemann ist ein eindringliches, nachdenklich stimmendes Buch. Es handelt sich nicht um locker-leichte Lektüre, so dass ich es Lesern empfehlen kann, die bereit sind, sich ganz auf ein Buch einzulassen und nicht alles im Detail ausformuliert haben wollen.