Vergangenheitstraumata und ihre Spätwirkungen

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In diesem Buch lernen wir Martin und Claudia kennen, die beide in ihrer Kindheit/Jugend traumatische Erlebnisse hatten, die bis zur Gegenwart nachwirken. Martin, der Sohn einer Roma, ist Journalist, geschieden, Vater zweier Kinder und erlebte in seiner Kindheit eine unglaublich erschreckende Phase, ausgelöst von seiner Mutter. Claudia wurde als Kind von ihrer Mutter im Stich gelassen, sie hat auch zwei Kinder, und ihr Mann hat seinem Leben willentlich ein Ende gesetzt. Die beiden lernen sich durch einen ungewöhnlichen Zufall kennen, sind sich sympatisch und spielen mit dem Gedanken, ihr weiteres Leben gemeinsam zu verbringen.
Wer jetzt meint, es handele sich um eine Liebesgeschichte, liegt daneben, denn es ist in erster Linie der Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Die Frage bleibt, ob psychotische Erlebnisse, selbst wenn sie schon lange zurückliegen, überwunden werden können. Oder verhindern sie, dass eine Beziehung, basierend auf Vertrauen und Zuneigung, entstehen kann?
Der Schreibstil ist flüssig und gut verständlich. Die Autorin bedient sich verschiedener Erzählebenen, so dass die Geschichte mal in der Vergangenheit und mal in der Gegenwart spielt. So baut sie eine Spannung auf, die den Leser dazu zwingt, weiter zu lesen. Mir persönlich hat dies sehr gut gefallen.
In der Vergangenheit verfolgen wir das Leben von Martins Mutter als Kind, die durch ihre Zugehörigkeit zu einer Roma-Familie ein hartes und unstetes Leben auf der Flucht führt. Die Erlebnisse sind so einschneidend, dass sich eine Psychose entwickelt, die sie zeitlebens mit sich trägt. In der Gegenwart wird Martins Sicht der Dinge geschildert, die verzweifelten Versuche, eine neue Beziehung aufbauen zu können.
Charlotte Kliemann versteht es hervorragend, die Gefühlswelt der einzelnen Protagonisten so intensiv zu schildern, dass man in die Romanwelt abtaucht und ganz nah am Geschehen ist.
Das Buch wirkt nach, man kann es nicht in einem Rutsch lesen, obwohl es spannend ist, und man immer wissen möchte, wie es weiter geht. Aber es beinhaltet so einschneidende Erlebnisse, dass man Zeit zum Nachdenken benötigt.
Mich hat die Erzählebene in der Vergangenheit am meisten berührt, ich habe einiges erfahren über die Verfolgung der Roma während der Nazizeit und über ihre Familienstrukturen. Hier hätte ich gern noch mehr gelesen....Die Gefühlsebenen der Gegenwart waren mir bisweilen etwas zu intensiv, denn immer nur Zögern oder Abwarten führt nie zum Ziel. Und wenn die Probleme unüberschaubar bleiben, sollte ich mir professionelle Hilfe suchen.
Alles in allem hat mich das Buch stark beeindruckt, es hat seine Spuren hinterlassen, und ich kann es wirklich empfehlen. Trotz der sporadischen Längen auf der Gefühlsebene ist mir das Buch fünf Sterne wert.