Tragische Familiengeschichte in wirren Zeiten

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gudrun_4 Avatar

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Der Klappentext versprach spannende Lektüre und die ausführliche Leseprobe mit den ersten Kapiteln hatte mich sofort gefangen genommen, so dass ich unbedingt das ganze Buch lesen wollte.
Ich wurde nicht enttäuscht: Das Buch ist spannend und bringt dem Leser die unruhige Zeit vor mehr als hundert Jahren sehr lebendig näher. Was wissen wir schon heute vom Osmanischen Reich, von den Verflechtungen mit den Ländern Westeuropas, von den Konflikten, die zum ersten Weltkrieg führten? Dicht verwoben mit den historischen Fakten ist die Familiengeschichte, die wir bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts verfolgen können.
Für Maria, die hochschwanger dem Vater ihres Kindes nach Anatolien hinterher reiste und dort mit ihm zusammenlebte, vier Kinder zur Welt brachte, in der fremden Kultur heimisch wurde und sich wohl fühlte, waren Rassismus oder Nationalismus Fremdworte. Sie wollte nicht zurück in ihren Geburtsort in Österreich, auch ihre Kinder wuchsen in der Dorfgemeinschaft zweisprachig auf und waren dort zu Hause.
Die Probleme begannen mit dem drohenden ersten Weltkrieg, in dem Marias Söhne für das Osmanische Reich zum Militär einberufen wurden. Maria war nicht in der Lage, die politische Situation einzuschätzen, ihr Mann lebte nur für den Bau “seiner” Eisenbahn. Letztendlich glaubten sie, ihre Söhne mit gekauften falschen Papieren, einem deutschen und einen französischen Pass vor dem türkischen Militärdienst zu retten und flohen nach Österreich. Die Familie wurde auseinander gerissen.
Es würde zu weit führen, jetzt von den vielfältigen tragischen Geschehnissen zu berichten. Von hier an wurde das Lesen schwieriger. Ich weiß nicht, ob es am Layout des E-Books lag und das gedruckte Buch übersichtlicher ist. Mir fiel es sehr schwer, jeden Zeitsprung in der Handlung, jede eingefügte Rückblende oder fiktive Gedankenspiele immer richtig zuzuordnen, oft musste ich zurück blättern und nochmal nachlesen. Diese Verschachtelungen und Brüche verdeutlichten mir die Wirren der Zeiten, das “Zittern der Welt”.
War in der ersten Hälfte des Buches Maria die Hauptgestalt, wechselte das in der zweiten Hälfte zu Erich, ihrem jüngeren Sohn, der den Krieg zwar überlebte, aber von Schmerzmitteln abhängig war und sich in Österreich als Fremder fühlte.
Beim Lesen drängten sich mir viele Fragen auf: Was müssen Eltern verantworten, wenn sie ihre Kinder entwurzeln? Was machen Kriege mit jungen Menschen? Wie kann man in einem Land leben, wenn man dort keine Wurzeln hat? Was können Eltern von ihren Kindern fordern? - Fertige Antworten habe ich nicht gefunden, nur jede Menge Denkanstöße. Und selten war ich nach der Lektüre so unsicher, ob ich das “Richtige” herausgelesen habe.
Insgesamt hat mich dieses Buch sehr berührt, ich fand es sehr lehrreich und wichtig. Gerade heute, wo wir uns immer darauf besinnen sollten, dass nicht die Flüchtlinge das Problem sind, sondern die Verhältnisse, die sie zu Flüchtlingen gemacht haben.