Gefährlicher Trend: Selbstdiagnosen auf Social Media

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downey_jr Avatar

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"Digitale Diagnosen: Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend" von Laura Wiesböck ist ein hochaktuelles und sehr wichtiges Buch.
Aktuell ist es im Trend, dass sich Menschen selbst Diagnosen für psychische und neurologische Erkrankungen stellen:

"Die Fülle der Informationen und ästhetisierten Bilder im Bereich psychischer Krankheiten ist verbunden mit dem Trend, dass ich immer mehr Nutzer:innen selbst eine Diagnose stellen, ohne medizinisches Fachpersonal zu konsultieren."

"Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn der Schmerz über den Verlust einer nahestehenden Person als Krankheit klassifiziert wird? Ist Traurigkeit mittlerweile zu einem Symptom worden, dem es lösungsorientiert zu begegnen gilt? Welche Funktion erfüllt die Schematisierung und Pathologisierung von leidvollen Erfahrungen? Und was hat Gereiztheit mit psychischer Gesundheit ("Mental Health") zu tun? Ist ein dünnes Nervenkostüm nicht ein nachvollziehbarer Zustand für Mütter, die unter dauerhaftem Schlafmangel, fordernden Betreuungspflichten, mangelnder Unterstützung und hohen gesellschaftlichen Erwartungen leiden? Oder können Menschen sich mittlerweile nur mehr eine legitime Auszeit erlauben, wenn sie auf ihre Gesundheit verweisen?"

Die Soziologin Laura Wiesböck analysiert auf sehr gut verständliche Art und Weise die Ursachen und Folgen dieses Trends rund um das Thema "Mental Health".
Sie zeigt die hieraus entstehenden Gefahren auf wie Fehldiagnosen und "Genesungshindernisse", erklärt Begriffe wie "toxisch", "triggern" und "Trauma" sowie deren zunehmende bzw. übermäßige Verwendung.

"Die umgangssprachliche Trivialisierung von psychopathologischen Begriffen zeigt sich auch darin, dass universelle Merkmale des menschlichen Daseins, wie Trennungen, Enttäuschungen oder Erfahrungen des Scheiterns, vermehrt als "Traumata" bezeichnet werden. Das kulturelle und soziale Konzept von "Trauma" in der Alltagssprache schließt Erfahrungen ein, die zwar verletzen oder verärgern, aber integraler Bestandteil des Lebens - und keine außerordentlichen Schockerlebnisse sind."

"Das kann mitunter auch im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Erzählung stehen, das persönliche Entwicklungsschritte erst oft nach traumatisierenden Erfahrungen stattfinden ("posttraumatisches Wachstum"). Wer lernt, dass ein Trauma die Grundlage ist, um wachsen oder "healen" zu können bzw. zu dürfen, wird sich eher an einer traumatisierenden Deutung von gewaltvollen Ereignissen oder Erfahrungen orientieren."

"Kommt in einem Gespräch der Hinweis, "getriggert" zu werden, dient dies als Schutzmechanismus, um eine weitere Auseinandersetzung oder vertiefende Argumentation zu unterbinden. Damit kann die Begriffsverwendung auch als soziales Machtspiel eingesetzt werden, indem die Verantwortung für nicht verarbeitete Traumata an das Gegenüber verschoben wird ("Du hast mich getriggert").

Sie wirft einen Blick auf Influencer:innen und die Gefahr der Nachahmung, besonders was Jugendliche angeht.

"Das birgt vielfältige Risiken. Denn die Mehrheit der Mental-Health-Influencer:innen besitzt keine Ausbildung- oder Berufsqualifikationen, um als Expert:innen auf dem Gebiet von psychiatrischen Erkrankungen zu gelten. Bis dato gibt es keine Regulierung und Standards dafür, anerkannte wissenschaftlich oder medizinisch begründete Kriterien einzuhalten. Das zeigt sich auch in den von Laien verbreiteten Informationen über psychiatrische Diagnosen, die häufig unzutreffend oder stark verkürzt sind."

"Influencer:innen kommt dementsprechend eine wichtige Rolle in der Popularisierung von Diagnosen zu. Sie können andere dahingehend beeinflussen ("influencen"), eine psychische Erkrankung für anstrebenswert zu halten, ob sie das selbst beabsichtigen oder nicht, spielt in der auf Nachahmung ausgelegten Struktur keine Rolle "

Auch das Kapitel "Mental Health und Selfcare als Wohlstandsphänomen" fand ich sehr gut geschrieben.

"Selfcare bei Frauen wird dann zu einer Verknüpfung von Jugendlichkeit, Weiblichkeit, Konsum, Autonomie und Transformation. Es gilt, effizienter, fitter, flexibler, widerstandsfähige, positiver und resilienter zu werden, dabei jung und attraktiv auszusehen und gesellschaftlich möglichst wenig Kosten zu verursachen. Damit stehen Frauen nicht nur im Wettbewerb mit anderen, sondern auch mit sich selbst, konkret mit einer "besseren Version" ihrer selbst. Nach dieser Logik gibt es keine Zeit, in der das jetzige Selbst ausreicht oder vielleicht sogar zufrieden stellt."

Das Kapitel "Plädoyer für zwischenmenschliche Ambivalenz und Trost" bringt das Buch perfekt zum Abschluss.

"Wenn von psychischen Abweichungen die Rede, sollte sich eigentlich immer auch die Frage stellen, wovon eigentlich abgewichen wird."

"Die Zuschreibung einer Diagnose erfüllt für Menschen zahlreiche individuelle Stabilisierungsfunktionen. So können Diagnosen als eine offizielle Anerkennung von Leid und Dysfunktionalitäz gesehen werden, in einer auf sichtbare Produktivität ausgelegten Gesellschaft, die dafür kaum mehr legitimen Platz hat, in der Ineffizienz oder Traurigkeit im Gegenteil eher als Kompetenzverlust gesehen werden."

Das Buch bekommt von mir eine ausdrückliche Leseempfehlung - ein wichtiges Thema, hervorragend analysiert und großartig geschrieben!

"Definitionen von "krank" und "gesund" sind keine objektiven Parameter. Sie sind sozial konstruiert, gesellschaftlich vermittelt, unterliegen spezifischen "Moden" und sind abhängig von unterschiedlichen Interessen und vorherrschenden Werten."

"Sich in Symptombeschreibungen auf sozialen Medien wiederzuerkennen, bedeutet jedoch erst einmal nichts anderes, als ein bestimmtes Verhalten an sich zu beobachten. Wenn man Muster wie Hyperaktivität und Impulsivität an sich wahrnimmt, und nicht zuerst die Frage nach der Art der psychischen "Störung" stellt, die sich darin manifestiert, sondern nach potentiell dahinter liegenden Ursachen, dann würde sich ein großer Raum eröffnen, der unterschiedliche, oft langwierige und herausfordernde Herausgehensweisen beherbergt, wie auch zahlreiche strukturelle Einschränkungen für die Verbesserung des Zustands. Mit einer konkreten Diagnose ist hingegen ein individueller Weg vorgegeben, der Handlungsfähigkeit verspricht und offene Fragen über das eigene Wohlbefinden scheinbar beantwortet."