Zwischen Aufklärung und Kritik – Wie Social Media unsere Sicht auf psychische Gesundheit verändert

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kati_lx Avatar

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In „Digitale Diagnosen“ beleuchtet die Soziologin Laura Wiesböck die inflationäre Nutzung psychologischer Begriffe in den sozialen Medien und hinterfragt kritisch, wie sich der aktuelle „Mental Health“-Trend auf unser gesellschaftliches Verständnis von psychischer Gesundheit auswirkt. Begriffe wie „Trauma“, „triggern“ oder „toxisch“ sind allgegenwärtig, oft entkoppelt von ihrem ursprünglichen klinischen Kontext und leichtfertig für Selbst- und Fremddiagnosen verwendet. Wiesböck analysiert mit beeindruckender Präzision, wo die Grenze zwischen Enttabuisierung und problematischer Verharmlosung verläuft und welche Risiken die digitale Popularisierung psychischer Diagnosen mit sich bringt.

Das Buch ist hervorragend recherchiert und angenehm geschrieben – informativ, ohne überladen zu wirken. Besonders spannend fand ich das Kapitel zur „Illness Appropriation“, also der Vereinnahmung psychischer Erkrankungen, insbesondere im Kontext aktueller gesellschaftlicher Debatten über toxische Männlichkeit und die psychiatrische Einordnung von Tätern mit psychischen Erkrankungen. Das Buch regt dazu an, den eigenen Social-Media-Konsum sowie die dort präsentierten Inhalte kritisch zu hinterfragen.

Ein kleiner Kritikpunkt für mich ist das Kapitel zu !Selfcare als Wohlstandsphänomen“. Während Wiesböck hier einen wichtigen Punkt trifft – dass Selbstfürsorge oft als Konsumtrend vermarktet wird –, bleibt für mich ein Aspekt unberücksichtigt: Selbstfürsorge ist ein essenzieller Bestandteil der psychischen Gesundheit und auch in therapeutischen Ansätzen zentral. Die Darstellung könnte den Eindruck erwecken, als sei persönliche Resilienzbildung nahezu bedeutungslos. Hier hätte ich mir eine stärkere Differenzierung oder Ergänzung zu konstruktiven Möglichkeiten gewünscht, mit denen Menschen ihre psychische Widerstandskraft stärken können.

Die Länge des Buches ist ideal – nicht künstlich aufgebläht, sondern prägnant und auf den Punkt. Auch das Cover hat eine starke visuelle Wirkung, erinnert mich jedoch eher an psychedelische Drogen, was zunächst eine andere Thematik assoziieren lässt.

Insgesamt ist „Digitale Diagnosen“ eine kluge, zeitgemäße Analyse eines hochaktuellen Themas. Wiesböck schafft es, die Debatte um Mental Health differenziert zu betrachten, auch wenn einzelne Aspekte noch tiefgehender hätten ausgearbeitet werden können. Wer sich mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung psychischer Gesundheit auseinandersetzen möchte, findet hier ein wichtiges Buch, das Denkanstöße liefert und zum kritischen Hinterfragen anregt.

Fazit: Ein scharfsinniges Buch über den Einfluss von Social Media auf unsere Wahrnehmung von Mental Health – präzise, aufschlussreich und lesenswert.