Ein aufrüttelnder Geniestreich über den "Brandbeschleuniger" Rassismus in Deutschland

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Wie leben Menschen mit rassifizierten Merkmalen derzeit in Deutschland? In Deutschland gibt es doch gar keinen Rassismus... ach. Diese Personen sind doch einfach nur empfindlich, sollen sich mal nicht so haben, interpretieren da etwas rein.

So ist leider immer noch die weit verbreitete Meinung zum Thema (Alltags-) Rassismus in Deutschland. Aber so sieht die Realität nicht aus. Menschen, die anders aussehen, nicht weiß sind, müssen tagtäglich mit offenen und latenten Anfeindungen und Unverständnis leben. Was dies mit den Betroffenen macht, beschreibt Shida Bazyar grandios in ihrem neuen Roman. Hier kommen drei Freundinnen nach Jahren des getrennten Erwachsenenlebens wieder zusammen, um die Hochzeit einer Bekannten zu feiern. Minutiös fächert Bazyar die Geschehnisse bis zu einem verheerenden Brand, zu dessen Verursacherin eine der drei Frauen schon zu Beginn des Buches ausgemacht wird. Während die Zeitlinie über drei Tage hinweg bis zum Brand nachvollzogen wird, erfahren wir immer mehr über die Lebens- und damit auch Rassismuserfahrungen der drei Frauen durch Rückblenden und Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit in einem sozialen Randgebiet der Stadt.

Literarisch arbeitet Bazyar auf höchstem Niveau. Dabei geht es nicht darum, dass die Sprache artifiziell oder hochgestochen wäre, nein der Aufbau des Romans, die Einbindung der Leserschaft durch Durchbrechen der Vierten Wand, das Ausarbeiten von soziokulturellen Theorien in den Plot und vor allem die direkte, ungeschönte Schilderung von vielen, vielen Rassismuserfahrungen macht dieses Buch zu einer Meisterleistung. Die Autorin nutzt die Metaebene, um die Lesenden auf Voreingenommenheiten und Scheinheiligkeiten aufmerksam zu machen. Sie scheint sich bewusst zu sein, dass diesen Roman wahrscheinlich eher links-liberale, weiße Leser*innen vor der weißen Nase haben, die sich informiert fühlen, aber hier trotzdem noch so einiges dazulernen können. Sie erklärt uns eben nicht, aus welchen Ländern die Eltern der drei Protagonistinnen kommen, welche Kriege sie durchlebt haben, in welchem Jahr sie geflüchtet sind, damit wir uns eben nicht zusammengooglen können, welchen Hintergrund die drei haben. Es ist nämlich irrelevant. Die Vorurteile, mit denen die Frauen zu kämpfen haben, bleiben dieselben. So wabern durch den Hinterkopf einer der Frauen "verschiedene Sprachen, die sie in Deutschland niemals brauchen und die ihr hier niemals als Kompetenz oder Qaulitätsmerkmal anerkannt werden würden." So soll eine Andere "aber trotzdem nur das machen, was für mich vorgesehen ist, und was für mich vorgesehen ist, darüber entscheide selbstverständlich nicht ich, sondern alle anderen."

An einer anderen Stelle, in der es darum geht, all diese Zusammenhänge der weißen Außenwelt zu erklären, heißt es: "...hör auf, es zu erklären, niemand dankt es dir. Niemand kriegt Applaus, weil er die Wahrheit sagt." Ich danke es Bazyar und sie kriegt sogar standing ovations von mir dafür. Diese nicht nur lehrreiche sondern auch hochspannende Story sollte von ausnahmslos jedem und jeder gelesen werden. Auch und gerade von den Personen, die sich für aufgeklärt, tolerant und informiert halten. Dieser Roman ist ein wahrer Zugewinn sowohl auf literarischer wie auch inhaltlicher Ebene. Ein grandioser Geniestreich. Ein kluges Jahres-Highlight 2021!