Intelligentes Spiel mit den eigenen Wahrnehmungen

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Der Anfang könnte harmlos sein, ein paar Freundinnen trinken Bier auf einem Dach, wüssten wir nicht schon, dass eine der drei Frauen, um die es in Shida Bazyars Roman geht, verdächtigt wird, ein Wohnhaus angezündet zu haben. Doch wie konnte es dazu kommen? Kasih schreibt es für uns auf, sie spricht uns an und führt uns in die Irre. Und wir folgen ihr, obwohl sie selbst zugibt, eine unzuverlässige Erzählerin zu sein, eine, die sich nicht um Einleitung, Hauptteil, Schluss schert, so wie es ihr in der Schule beigebracht wurde. Trotzdem glauben wir ihr, auch wenn zunehmend Zweifel aufkommen, ob das alles wirklich so geschehen sein kann.
Saya, Hani und Kasih sind zusammen in einer Siedlung am Rande einer namenlosen Kleinstadt aufgewachsen, sie verbindet die Tatsache, dass ihre Eltern alle aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, aus welchen wird nicht verraten und ist letztendlich auch nicht wichtig. Jetzt treffen sie sich in der Großstadt wieder, in der Hani und Kasih inzwischen leben, um mit einer alten Schulfreundin deren Hochzeit zu feiern. Doch bis dahin verbringen sie noch ein paar gemeinsame Tage und tauschen sich über ihr Leben aus. Als düstere Begleitmusik fungiert der Prozessbeginn gegen eine Nazigruppe, die eine Mordserie an fremd gelesenen Menschen verübt hat. Besonders Saya verfolgt alle Details der Verhandlung, sie ist wütend und konfrontationsfreudig, ganz im Gegenteil zu Hani, die vor langer Zeit schon beschlossen hat, dass es am besten ist, das Leben möglichst harmonisch zu gestalten und die Alltagsrassismen an sich abperlen zu lassen. Kasih, die Erzählerin, steht dazwischen, auch sie ist wütend, zeigt es aber nicht so offen. Shida Bazyar erzählt in ihrem Roman von Rassismus, Sexismus und wie es ist, immer als fremd wahrgenommen zu werden, selbst von Freund*innen und Partner*innen. Durch Kasihs Erzählung wird uns Lesenden ständig der Spiegel vorgehalten, wir werden gezwungen, uns mit unseren eigenen Vorurteilen zu beschäftigen. Die gleichzeitige Unzuverlässigkeit der Erzählerin führt zu überraschenden Wendungen und einem Spannungsaufbau, dem man sich nicht entziehen kann. Uns sie erreicht, dass wir uns zunehmend unsicher fühlen, wir versuchen zwischen den Zeilen zu lesen, um die uns geschilderte Situation besser einschätzen zu können. Ganz so, wie es die drei Kameradinnen (und das sind sie, sie kämpfen gemeinsam) tagtäglich in jeder Situation tun müssen, um auf alles vorbereitet zu sein. Shida Bazyar gelingt mit ihrem zweiten Roman das Kunststück, eine spannende Freundschaftsgeschiche mit Bildungsauftrag zu schreiben. Wer ihn liest, sollte bereit sein, die eigenen Vorstellungen zu hinterfragen.