Kraftvolle und kluge Konfrontation

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lillywunder Avatar

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Dieses Buch ist kein Spaziergang, vielmehr eine echte Wanderung über Stock und Stein der Fremd- und Selbsterfahrung - für den Rucksack für unterwegs empfehle ich etwas Konfliktfähigkeit, eine Portion Ambiguitätstoleranz und gerne auch ein klein wenig Humor.

Dass es Alltagsrassismus gibt, dass rassistische Diskriminierung strukturell verankert ist in deutschen Institutionen, dass Vorurteile an Aussehen und Nachnamen gebunden sind und diese die persönlichen Chancen einschränken,... als nüchterne Fakten mag das den meisten schon bekannt sein, der Roman von Shida Bazyar vermittelt diese Wahrheiten allerdings noch einmal wesentlich eindrücklicher und auf seine ganz eigene Art. Hier geht es nicht um statistische Zusammenhänge, hier erfährt man durch die Lektüre ganz unmittelbar das Gefühl, stets unter Verdacht zu sein, sich immer mehr anstrengen zu müssen als andere, sich keinen Fehltritt erlauben zu dürfen, ständig Zuschreibungen aufgrund der eigenen Herkunft zu erfahren und Hass aushalten zu müssen.

Aus nächster Nähe kennenlernen dürfen wir diese Lebenswirklichkeit durch Kasih, eine junge Frau, die als Kind aus einer Einwandererfamilie in einer deutschen Stadtrandsiedlung der 90er aufgewachsen ist. Zusammen mit ihren Freundinnen Saya und Hani, die sie nun, anlässlich einer Hochzeit, für einige Tage wieder trifft. Kasih erzählt uns von der gemeinsamen Kindheit in der Siedlung - von Vorurteilen der Kindergärnterinnen über Unverständnis der Lehrkräfte für die Lebenssituation Eingewanderter bis hin zum Schubladendenken bei der Job-Beratung. Von kleinen oder größeren diskriminierenden Erfahrungen aufgrund von Kopftüchern, Nachnamen oder Hautfarben, welche die drei Freundinnen immer mehr wahrnehmen und schließlich beginnen, Worte dafür zu finden und ihren eigenen Umgang damit. Hani, indem sie sich anpasst, anstrengt und über Alltagsrassismus möglichst gelassen hinwegsieht und Saya, indem sie die Auseinandersetzung und Provokation sucht, wütend, radikal und kämpferisch.

Kasih schreibt ihre Geschichte in einer einzigen langen Nacht auf, in der Nacht nach einer Brand-Katastrophe, an die sie den Leser Seite für Seite näher heranführt und die dazu führen wird, dass Saya im Gefängnis landet. Und bevor die Presse ihre Sicht der Dinge inklusive Vorverurteilung verbreiten kann, macht sie gleich zu Beginn klar, dass sie den Leser nicht schonen wird mit ihrer Sicht auf die Dinge, dass das hier allein ihre Geschichte ist. Sie spielt mit dem Leser, ebenso wie mit der Wahrheit - gerade denkt man, man hätte verstanden, da ist sie schon wieder einen Schritt weiter und schlägt der Selbstgewissheit des Lesers ein Schnippchen. Geschickt hält sie dem Leser den Spiegel vor - hier, so fühlt es sich an, wenn andere alles über dich zu wissen glauben. Wenn es ein "Wir" und ein "Ihr" gibt. Wenn andere die alleinige Deutungshoheit haben. Wenn deine Herkunft stellvertretend für deine Eigenschaften steht.

Kasih stellt eingefahrene Denkmuster in Frage. Sie sagt uns nicht, aus welchen Herkunftsländern sie und ihre Freundinnen kommen, damit uns die Schubladen fehlen, in die wir einsortieren können. Sie benennt auch nicht den NSU-Prozess, der im Roman gerade beginnt und den Kasih und ihre Freundinnen gebannt verfolgen, da die Bedrohung und der Hass genauso gut sie meinen wie die tatsächlichen Opfer und weil die deutschen Institutionen bei der Aufklärung versagt haben. Und was haben wir Leser eigentlich von diesem Prozess mitbekommen? Wissen wir, was schief gelaufen ist? Kennen wir die Bilder und die Namen der Opfer? "Und falls ihr es nicht mitbekommen habt, dann weiß ich mehr über euch, als ihr euch vorstellen könnt, dann weiß ich alles über euch, dann weiß ich, wie weiß, wie geschützt euer Leben ist, wie frei von Gewalt, wie frei von Angst". Ein paar Unterstellungen und Beschimpfungen als Stilmittel muss man schon bereit sein zu ertragen, bei dieser herausfordernden Lektüre.

Doch wenn man sich darauf einlässt, lernt man die verschiedenen Perspektiven der drei Freundinnen kennen, verschiedene Positionen werden gegenübergestellt, reflektiert, in Frage gestellt - und transzendiert durch die Freundschaft zwischen den drei Frauen, die bedingungslos und solidarisch zusammenstehen. Ein berührender Roman, der eine Lebenswirklichkeit nahe bringt, Unordnung in Schubladen verursacht und ein erhellendes Spotlight auf die eigenen Privilegien und Voreingenommenheiten wirft - wenn man denn bereit ist, Kasih einfach einmal zuzuhören.