Familie Yilmaz

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schneeglöckchen_gk Avatar

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Der Einstieg in diesen Roman könnte kaum dramatischer sein; der Familienvater Hüseyin stirbt am Tag des Einzugs in seine neue Wohnung in Istanbul. Innerhalb der nächsten 48h versuchen alle Familienmitglieder in die Türkei zu reisen, um ihn zu bestatten. Dabei verläuft nicht alles reibungslos. Sehr viel mehr kann man über den Inhalt des Buches kaum schreiben ohne zu spoilern – daher verzichte ich auch auf diverse Triggerwarnungen, die unter Umständen als angebracht erachtet werden könnten.


Jedes Kapitel wird aus der Perspektive einer anderen Person erzählt, zusammen zeichnen sie nach und nach ein Bild der Familie Yilmaz. Auf dem Einband steht, der „Roman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind“. Etwas irritiert stellte ich in den ersten Kapiteln fest, dass die einzelnen Familienmitglieder tatsächlich sehr isoliert voneinander zu leben scheinen und sich gegenseitig fremd sind. Dieser Eindruck schwindet aber mit der Zeit, im Fortgang der Kapitel werden immer mehr Verbindungen sichtbar und es erschließt sich ein zusammenhängenderes Muster des familiären Kontexts.

In den beiden Kapiteln der Eltern, Hüseyin und Emine, spricht eine unbekannte Stimme in der zweiten Person Singular zu ihnen. Diese Passagen fand ich etwas seltsam zu lesen. Die anderen Kapitel werden jeweils aus der Perspektive eines der vier Kinder (Sevda, Hakan, Peri und Ümit) von einem Erzähler wiedergegeben. Jedes Kind steht dabei für eine andere Phase im Leben der Einwanderer-Eltern, jede Figur hat andere Probleme und entwickelt eine andere Strategie mit der Lebenswirklichkeit umzugehen. Dabei bespricht die Autorin alle derzeit relevanten gesellschaftlichen Themen, manches wird ganz direkt thematisiert, anderes schwingt unterschwellig mit. Auch historische Bezüge zur Situation der Kurden bereichern die Erzählung.

Besonders stark war für mich das Ende des Romans; nach einer Phase von durchschnittlicher Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschriebenen wurde durch den Schlussakkord meine Begeisterung nochmal entfacht! Der Autorin gelingt es wunderbar, die richtige Mischung aus „der Kreis schließt sich“ und „manche Handlungsstränge bleiben offen“ zu finden.


Der Schreibstil von Fatma Aydemir ist für mich nicht herausragend, der Text liest sich aber leicht und flott, das Geschriebene entwickelt einen großen Sog. Mir hat gefallen, dass das Buch ein Inhaltsverzeichnis enthält. Eine wünschenswerte Ergänzung wären Aussprachehinweise für die Namen der Protagonisten und evtl. Erklärungen zu einzelnen Begrifflichkeiten.


Der Erzählstil dieses Romans hat mich ein wenig an „Mond über Beton“ von Julia Rothenburg erinnert, wodurch ich skeptisch war, da ich die Leseerfahrung mit den Bewohnern des NZK im letzten Jahr nicht besonders positiv erinnere. Fatma Aydemir ist es mit „Dschinns“ aber gelungen eine runde Geschichte zu schreiben, die sich als sehr viel besser als besagter Titel herausgestellt hat. Das Buch hat das Potential die Sicht auf Menschen mit Migrationshintergrund nachhaltig zu verändern; ich kann es daher jedem Leser nur empfehlen! Die junge Autorin schafft es, in mal feinen, mal raueren Tönen ein vielschichtiges und facettenreiches Familienporträt zu schildern, bei dem jeder eine Figur finden wird, der man sich nahe fühlt.

P.S.: Der Titel erklärt sich im Laufe des Romans sehr gut, allerdings möchte ich diesbezüglich nichts vorwegnehmen. Nur so viel sei gesagt: „Dschinns leben auf der Erde, so wie Menschen auch.“ Wer sich fragt, ob nun irgendwelche „Geister“ in der Geschichte auftauchen, der sei beruhigt; dies ist nicht er Fall.