Geister im Kopf

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
amara5 Avatar

Von

Fatma Aydemir hat mit ihrem ergreifenden Gesellschaftsroman „Dschinns“ eine berührend-intensive deutsch-türkische Familien- sowie Einwanderungsgeschichte erschaffen, die mit einer kraftvollen poetischen und feinsinnig nuancierten Prosa tief bewegt und in die Seelen sowie Dschinns der erzählenden Familienmitglieder blicken lässt.

Familienoberhaupt Hüseyin kam als türkischer Gastarbeiter vor Jahrzehnten nach Deutschland, um sich Wohlstand aufzubauen – als er es endlich vollbracht hat, mit viel Liebe zum Detail eine Eigentumswohnung in Istanbul fertigzustellen, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt. Voller Trauer, Erinnerungen und unausgesprochenen Verletzungen reisen fast alle Familienmitglieder an, um Baba seine letzte Ehre zu erweisen. Aydemir lässt nun kapitelweise die Protagonisten Ümit, Sevda, Peri, Hakan und Mutter Emine aus ihrem Leben zwischen den Kulturen, familiären Zwängen und dem schwierigen Ankommen in Deutschland feinfühlig erzählen – dabei changiert sie klug zwischen dem Heute und Fragmenten aus der Vergangenheit, zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Freude und Schmerz, dem Ankommen und schmerzvollen Rassismus im Land, zwischen unerfüllter Liebe und nie Ausgesprochenem in der Familie, in der jeder mit seinem eigenen Dschinn in der Seele kämpft. Diese mythologischen Geistwesen einer Parallelwelt können laut dem islamischen Glauben auf den Menschen einwirken und sie werden besser nicht gerufen. Doch in Aydemirs sind es eher die seelischen Wunden und unverarbeiteten Traumata, Unausgelebtes, Zurückgedrängtes und fehlende Nähe so wie zwischen der depressiv-herrschenden Mutter und Tochter Sevda, die erst später nach Deutschland geholt wurde.

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ S. 193

Poetisch und mit psychologischer Wucht und präziser Beobachtungsgabe zeichnet sie jedes Familienmitglied sehr plastisch, dringt tief in ihr Innerstes und zeigt neben den unerfüllten Lebensträumen und der Suche nach Identität nicht nur die kulturelle Zerrissenheit, sondern auch die fremdenfeindlichen Spaltungen in unserer Gesellschaft. Im letzten aufwühlenden und leicht rätselhaften Kapitel blickt Emine in der leeren, unbewohnten Wohnung in ihr Spiegelbild – und entdeckt etwas viel Größeres. Ein hervorragend gut komponierter und tiefsinniger Roman, der so schnell nicht loslässt!

„Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmslungsloser ist als die eigene Fantasie?“ S. 185