Hinter den Mauern

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Endlich! Hüseyin sitzt in seiner Wohnung in Istanbul, frisch erworben, die ihm und seiner Familie nach 30 Jahre eine Rückkehr aus Deutschland in die Türkei ermöglichen soll. Im nächsten Moment verstirbt der Familienvater und hinterlässt seine trauernde Frau Emine und die gemeinsamen Kinder. Zur Beerdigung treffen diese nach und nach in Istanbul ein, jede*r mit ihren*seinen eigenen Gedanken und Reflexionen über den „Baba“, über die eigene Kindheit und Adoleszenz, das Heranwachsen zwischen türkisch-islamischer und westlich geprägter Kultur. Auch Sevda, die seit Jahren keinen Kontakt zu ihren Eltern hatte und sich nun endgültig von Ehemann Ihsan getrennt hat, nimmt den Weg auf sich, konfrontiert sich und vor allem ihre Mutter mit den Geistern der Vergangenheit. Mal behutsam, mal in lautstarkem Austausch gehen die Familienmitglieder den Geheimnissen und verschleierten Verbindungen auf den Grund. Besonders Emine dringt bis zum Kern ihrer Familiengeschichte, zum Ursprung der tiefsitzenden Verletzungen vor.

„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen?“ (S. 189)

Mit wenigen Sätzen die Faszination zu schildern, die „Dschinns“ mit fortschreitender Lektüre auf seine Leser*innen ausübt, ist ein fast schon unmögliches Unterfangen. Aydemir nimmt uns in eine Welt der Interkulturalität mit, eine Welt voller Menschen, die zwischen den Kulturen der Türkei, Deutschlands und Kurdistans stehen, für die die Begriffe Heimat und Zuhause zu einer indifferenten Größe werden. Andererseits ist der Roman vor allem eine höchst dramatische, vielschichtig verworrene Familiengeschichte um Geheimnisse, um im Verborgenen Bleibendes und den Topos der Verantwortung.

Strukturell bietet Aydemir Introspektiven in die Mitglieder der Familie Yılmaz und widmet jeder und jedem einen eigenen Abschnitt. Nach und nach enthüllt sie dabei die interfamiliären Zusammenhänge, lässt ihre Leser*innen zentimeterweise in das Zentrum der Rätselhaftigkeiten vordringen und gewährt allmählich einen Blick hinter die Kulissen, hinter die sorgsam aufgebauten Fassaden. Von der quasi-verlorenen Tochter Sevda, die sich fortwährend ihrer Selbstständigkeit versichert und diese vehement nach außen vertritt, bis zum Nesthäkchen Ümit, der sich mit seinen 15 Jahren in einem Findungsprozess der eigenen Sexualität befindet – in zutiefst berührende Worte von Aydemir gehüllt! –, bieten die Figuren diverse Identifikationsmöglichkeiten an, zeichnen sie sich doch durch ein hohes Maß an Authentizität und Detailreichtum in ihrer Zeichnung aus.
Neben diesen literarischen Finessen, die die Autorin durch eine kunstfertige Sprache und einen gleichsam direkten und unprätentiösen Erzählduktus unterstreicht, lebt der Roman vor allem durch seine Spannung. Die Kombination aus Familiengeschichte und der Enttarnung der Mythen um diese herum nimmt bisweilen extrem intelligente, suspense-artige Züge an, die staunen, zu Herzen gehen und treffen. Ohne dabei zu viel vorwegzunehmen, lässt sich bereits verraten, dass gerade das Ende des Romans vor Überraschungen und Plot-Twists geradezu strotzt, die jedoch in keinem Fall zu viel sind, sondern die Glaubwürdigkeit der Geschichte unterstreichen.

Die Fülle an Themen, die Aydemir an der Familie Yılmaz verhandelt, ist ein Paradebeispiel für einen gleichzeitig höchst unterhaltsamen Pageturner und ein literarisches Kunststück par excellence! Zu keinem Zeitpunkt lässt die Autorin den Spannungsbogen abfallen, spielt mit den Tempi und Lautstärken, ordnet die Geschehnisse immer wieder neu. Gesellschaftlich höchst relevant meldet „Dschinns“ Ansprüche in Richtung der preiseverleihenden Institutionen an – und das wäre nicht nur absolut verdient, sondern aus meiner Sicht fast schon unumgänglich notwendig! Vielen Dank für dieses Meisterwerk!