Kurdisch-türkisch-deutsch oder deutsch-türkisch-kurdisch?

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Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" spielt im Jahr 1999. Sie schreibt über eine Familie, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. Zunächst war es nur der Vater Hüseyin, der als Gastarbeiter in einer Fabrik schuftete, bis er seine Ehefrau und die Kinder hinterher holen durfte. Alle, bis auf die älteste Tochter Sevda. Sie musste im Dorf ausharren und sich um die betagten Großeltern kümmern. Erst spät durfte sie schließlich auch nach Deutschland kommen. Ein Mädchen, das in der Türkei nicht zur Schule gegangen ist und nun nach Ankunft in Deutschland formell nicht mehr schulpflichtig ist. Für mich war sie die zentrale Figur des Romans. Interessant ist, dass ich diesbezüglich verschiedene Einschätzungen gelesen habe. Das liegt vermutlich daran, dass die Autorin allen Familienmitgliedern (beiden Eltern und den vier Kindern) jeweils ein eigenes Kapitel widmet und die Protagonisten dort ihre Sicht auf ihr Leben und ihre Lebenswirklichkeit geben, zusätzlich zu den Gedanken zur eigentlich aktuellen Situation des Buches, die sich rund um Hüseyins plötzliches Versterben abspielt. Ich empfand die Einblicke als sehr interessant. Ich stelle es mir sehr schwer vor, zwischen den Kulturen hin- und hergerissen zu sein, sich nirgendwo richtig zugehörig zu fühlen. Sich nicht deutsch zu fühlen, weil die Eltern es nicht tun. Sich nicht türkisch zu fühlen, weil man zwar die Sprache spricht, dies aber mit Akzent und das Land eigentlich nicht kennt. Sich nicht kurdisch zu fühlen, weil man erst kürzlich erfahren hat, dass das Bergdorf aus dem die Eltern stammen, als kurdisch gilt. Was ist man dann? Wo gehört man dann hin? Für die Identitätsbildung und das Selbstwertgefühl sind diese Dinge entscheidend. Ich finde es wichtig, diese Einblicke über solche Romane zu bekommen, wenn man solche Identitätskrisen nicht selbst durchmachen musste. Einige kritisieren, dass Deutschland "nicht gut" wegkomme in diesem Roman. Das empfinde ich nicht so. Die Kritik am Land ist wohldosiert, nicht übermächtig und in den Situationen adäquat. Der Fokus liegt vielmehr auf den identitären Krisen insbesondere der Kinder der Familie, die alle mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben. Die Autorin vermittelt damit ein facettenreiches Bild letztlich verschiedener Lebensverläufe, die dennoch zu einer Familie gehören und teilweise unterschiedlicher nicht sein könnten.
Ich habe auch das Debüt der Autorin "Ellbogen" im Erscheinungsjahr gelesen und war von ihrem Schreibstil sofort in den Bann gezogen. Das ist auch mit diesem Buch so. Sie kann es einfach! Richtig gut! Die Geschichte an sich hat mir deutlich besser gefallen als "Ellbogen".

Fazit:
Für mich ein Must-read! Wer sich in die Gedankenwelt von Migranten, insbesondere der 2. Generation, einfühlen möchte, wird hier ein (soweit ich das beurteilen kann) umfassendes Bild erhalten und zusätzlich mit einer wundervollen Erzählsprache verwöhnt.