Über die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart einer Familie

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mrscatastrophy Avatar

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Als "Gastarbeiter" nach Deutschland gekommen, möchte Hüseyin nach dreißig Jahren harter Arbeit in Deutschland Ende der 1990er mit seiner Familie in die Türkei ziehen. Er hat in Istanbul eine Wohnung gekauft und bereitet diese gerade für das Eintreffen seiner Frau und Kinder vor, als er einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Nach und nach trifft die Familie ein, bestürzt, überfordert und jedes Familienmitglied mit eigenen Sorgen und Problemen, von denen der Rest der Familie zumeist nichts weiß.

Kapitel für Kapitel seziert Fatma Aydemir die individuellen Lebenssituationen im Spannungsfeld von Diaspora, Ausgrenzung, Selbstfindung, Individualität und Familie, erzählt von unterschiedlichen Wegen, sich zu lösen und doch verbunden zu bleiben, von nicht hinterfragten Vorurteilen nicht nur von "außen", sondern auch innerfamiliär. Die Spannbreite der Charaktere bietet einen Einblick in die Schwierigkeiten, denen Menschen begegnen, wenn sie ihre Identität mit Zwängen und Anforderungen nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der eigenen Familie übereinander bringen. Dabei verzichtet die Autorin auf eine eindimensionale Darstellung der Figuren als passive Opfer, sondern verleiht ihnen Handlungsmacht, lässt sie streiten, gegen Erwartungen verstoßen, lässt Raum für Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

Die unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen einen vielschichtigen Zugang zum Roman und brechen mit Stereotypen über sogenannte "Gastarbeiter*innen". Aushandlungsprozesse auf gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Ebene führen zu völlig verschiedenen Lebensentwürfen und Einstellungen - seien es die Interaktion mit anderen Familien oder der Umgang mit Stereotypen, die von außen wirken, seien es die innerfamiliären Spannungen, Geheimnisse, Konflikte.

Obwohl ein solches Buch leicht im Klischee versinken könnte, ist das bei "Dschinns" nicht der Fall. Dass viele der lang unterdrückten Konflikte und Fragen, einige der Dschinns, auch in einer Familie ohne Migrationsgeschichte oder mit anderer Geschichte auftauchen können, verhindert, den Roman exotisierend als Auseinandersetzung mit "den anderen" zu lesen. Es ist gerade eine Stärke des Buchs, die Migrationsgeschichte stets mitlaufen zu lassen, ohne die Handlung und die Figuren darauf zu reduzieren. So werden oft übersehene marginalisierte Identitäten und Lebensrealitäten beleuchtet, ohne bloß Diskriminierungserfahrung auf Diskriminierungserfahrung zu türmen und die Figuren darüber zu definieren, wird mit jeder homogenisierenden Vorstellung über türkeistämmige Familien gebrochen und gerade auch verdeutlicht, dass ethnische Spannungen innerhalb der Türkei sich vielfältig auf Diasporafamilien auswirken können - denn wenn man in Deutschland pauschal als Teil der türkischen Minderheit wahrgenommen wird, in der Türkei jedoch ebenfalls Assimilationszwängen ausgesetzt ist - was bedeutet das für die Familiengründung, wie wird eine solche Erfahrung an die Kinder weitergegeben und was wird dadurch verleugnet? Gerade durch das Bewusstsein für Ambivalenzen, die Komplexität der Charaktere und ihre völlig unterschiedlichen Lebensentwürfe wird die Unmittelbarkeit der Handlung mit Sensibilität gegenüber den Figuren verbunden, berührt und fragt nach den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart einer Familie.

"Dschinns" ist durchweg spannend, schafft eine authentische Atmosphäre der späten 1990er und wirkt, wie schon "Ellbogen", einige Zeit nach.