Düster, einfühlsam und schockierend - aber insgesamt nur Mittelmaß

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Die Kriminalpolizistin Hulda Hermannsdóttir fiebert ihrer Pensionierung nicht gerade entgegen. Sie lebt alleine und hat keine nennenswerten Hobbys. Ihre einzige Freizeitbeschäftigung ist das Wandern. Dabei hat sie Pétur kennengelernt, mit dem sie sich langsam eine Zukunft vorstellen kann. Dann der Schock: Sie soll schon viel früher als gedacht aufhören und wird durch einen jungen männlichen Kollegen ersetzt. Ganz gnädig erlaubt ihr Chef ihr, sich einen ungelösten Fall auszusuchen, mit dem sie sich zwei Wochen lang beschäftigen darf, bevor sie endgültig den Schreibtisch räumen muss. Hulda sucht sich den unaufgeklärten Todesfall einer russischen Asylbewerberin aus, der vor einem Jahr nach ihrem Geschmack zu leichtfertig von einem inkompetenten Kollegen als Selbstmord abgetan wurde.

Konfrontiert damit, dass ihr Leben sich nun endgültig dem Ende zuneigt und sie bald sehr viel mehr Zeit für sich selbst haben wird, lässt Hulda alle Schicksalsschläge, das ganze Elend ihrer fast 65 Jahre, Revue passieren und hängt in Erinnerungen fest, zugunsten derer sie manchmal die Ermittlungen aufschiebt – schließlich ist die junge Frau bereits tot und niemand sonst scheint an der endgültigen Aufklärung des Falls interessiert zu sein. Zwischendurch gibt es noch Rückblicke in eine frühere Zeit, in der eine junge, alleinerziehende Mutter damit kämpft, sich und ihre kleine Tochter irgendwie durchzubringen. Dieser Strang spielt kaum eine Rolle für die Geschichte, er dient eher der Charakterbeschreibung und war aber nicht so spannend oder gut geschrieben, dass man nicht auf ihn hätte verzichten können. Ich hätte es eleganter gefunden, wenn man die Erkenntnisse daraus in den Haupterzählstrang integriert hätte. Nach einiger Zeit setzt noch ein dritter Erzählstrang ein, der tatsächlich etwas zur Geschichte beiträgt und eine kleine Überraschung birgt. Diese war sehr gelungen.

Angerissen werden diverse sozialkritische Themen wie Selbstjustiz und verschiedene Definitionen von Gerechtigkeit, die schwierige Situation von Asylsuchenden, die Benachteiligung von Frauen in Männerdomänen. Es gibt viele Verdächtige, Red Herrings werden gezielt und erfolgreich gestreut. Huldas zugegebenermaßen stellenweise sehr verbitterten Gedanken könnten für manche Leser zu negativ sein, für manche auch schlichtweg uninteressant – ich fand sie gut geschrieben und habe mit ihr mitgefühlt. Bis hierhin hätte das Buch mindestens vier Sterne verdient. Und dann… kommt das Ende. Ich kann hier natürlich nichts verraten, aber das ist vielleicht das überraschendste Ende eines Krimis, das ich je gelesen habe. Ob ich den Twist gelungen oder unpassend fand, weiß ich immer noch nicht, aber ich habe jedenfalls kein Interesse daran, weitere Bände über Hulda zu lesen, was das Buch für mich irgendwie zur Eintagsfliege macht.

Einige Worte noch zur Übersetzung: Dass der Roman über einen Umweg aus dem Englischen übersetzt wurde und nicht direkt aus dem Isländischen ist eine Schande, wo wir so gute isländische Übersetzerinnen haben wie Coletta Bürling oder Tina Flecken. Erstaunlicherweise ist der Übersetzungsprozess dennoch gelungen, es fallen keine offensichtlichen Fehler auf und der isländische Charakter des Buches geht nicht verloren, was sicher der Kompetenz der jeweiligen Übersetzer zu verdanken ist. Was verloren geht, sind leider die sprechenden Namen. Einer davon wird übersetzt, allerdings nur, weil im Buch selbst angesprochen wird, dass er zu der entsprechenden Person passt. Auch Hulda hat einen sprechenden Namen. Das Wort bedeutet auf Altnordisch und Isländisch so viel wie ‚Verhüllung, Schleier‘ und suggeriert Geheimnisse, etwas, das im Verborgenen bleibt – diese Symbolik geht aber für die deutschen Leser ohne eine Anmerkung leider verloren.

Mein Fazit: Sehr düster, eine gute Lektüre zum Einmallesen, aber mit diesem Ende kann ich nicht mehr als drei Sterne geben.