Der gefährliche Weg in die Freiheit

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theresia626 Avatar

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„Dunkle Gewässer“ von Joe R. Lansdale entführt den Leser nach Osttexas in die Zeit der Großen Depression. Die Menschen sind arm, hoffnungslos und stecken in ihrem ausweglosen Leben fest wie tiefverwurzelte Bäume (S. 29). Rassismus und Frauenfeindlichkeit sind übliche Praxis, der Ku-Klux-Klan ist noch aktiv. Der Autor lässt die 16jährige Sue Ellen, die hier als Ich-Erzählerin auftritt, ihre abenteuerliche und gefährliche Flucht auf einem Floß auf dem Sabine River erzählen.

Früher fingen Sue Ellens Vater Don und ihr Onkel Gene Fische in dem Sabine River mit dem Telefon oder mit Dynamit. In jenem Sommer gingen sie dazu über, unreife Walnüsse und ein paar Steine in Jutesäcke zu stopfen, die sie dann in den Fluss warfen. Die durch das Walnussgift betäubten Fische mussten sie später nur noch einsammeln. Eines Tages hilft Sue Ellen mit ihrem Freund Terry ihrem Vater. Einen schweren Jutesack können beide jedoch nicht an Land ziehen. Darin hat sich eine Leiche verfangen, an deren Füßen noch eine Nähmaschine befestigt ist. Es ist die Leiche von May Lynn, dem schönsten Mädchen der Stadt. Sue Ellen erkennt ihre Freundin an dem Kleid, das sie anhat. Es ist das einzige Kleid, das May Lynn je getragen hat. May Lynn hatte Träume, sie wollte die Stadt verlassen und nach Hollywood gehen. Der herbeigerufene Constable Sy Higgins kümmert sich nicht darum, was mit ihr geschehen ist. Wenn es nach ihm ginge, dann könnte ihre Leiche wieder in den Fluß geworfen werden. Sy Higgins, der eine Augenklappe trägt, wurde Gerüchten zufolge ein Auge von einer Schwarzen ausgekratzt, während er sie vergewaltigte, und das Holster für seine Waffe soll angeblich aus Indianerhaut gefertigt sein (S. 23). May Lynn, Terry, Sue Ellen und Jinx, die alle im gleichen Alter sind, sind Freunde seit Kindertagen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Terry ist ein intelligenter, junger homosexueller Mann, Jinx eine Farbige. Sie kann lesen, schreiben und etwas rechnen. Das hat ihr ihr Vater beigebracht, der im Norden arbeitet und die Familie dadurch im Süden gut versorgt. Sie ist ein wildes, teilweise boshaftes Mädchen. Sue Ellen hingegen ist für ihr Alter frühreif und wird von ihrem Vater oft sexuell belästigt. May hatte wie alle anderen kein einfaches Leben. Sie wuchs ohne Mutter auf, die sich im Fluss ertränkt hatte. Sie war eine stille Frau, mit einem Gesicht, in dem die ganze Traurigkeit der Welt lag (S. 38). Terry möchte May Lynns Wunsch posthum erfüllen und ihre Leiche nach Hollywood bringen. Bevor sie sich auf die Reise begeben, entdecken die Teenager in May Lynns Habseligkeiten ein Tagebuch, indem eine Art Schatzkarte versteckt ist. Diese Karte führt sie auf einen Friedhof und zu viel Geld, das aus einem Banküberfall ihres Bruders Jake stammt. Er ist an einer Lungenkrankheit gestorben und hatte seiner Schwester das Geld hinterlassen. May Lynn, die eine Beerdigung in einem Armengrab bekommt, wird später von ihren Freunden wieder ausgegraben, heimlich verbrannt und ihre Asche in ein Glas gefüllt. Sue Ellens Mutter, die sich von ihrem gewalttätigen Ehemann befreien will, begibt sich mit auf die abenteuerliche Reise. Als Cletus, May Lynns Vater, Wind von dem Geld bekommt, hetzt er ihnen eine Vielzahl von Verfolgern auf die Fersen, und er beauftragt Skunk, einen Kopfgeldjäger, Fährtenleser und Killer. Sie haben viele schwere Prüfungen zu bestehen, bekommen für kurze Zeit Unterschlupf bei dem exzentrischen Prediger Joy und werden von einer alten Frau wie Sklaven gefangen gehalten.

„Dunkle Gewässer“ von Joe R. Lansdale ist ein Leseerlebnis. Das Buch zeichnet sich durch sprachliche Finesse und streckenweise trockenen Humor aus. Die Sumpflandschaft und das mit Dornengestrüpp bewachsene Flussufer werden sehr intensiv und teilweise poetisch beschrieben. Dem Leser erscheinen diese Beschreibungen wie in einem Märchen, das kein gutes Ende nimmt, und der psychopathische Killer Skunk scheint nicht von dieser Welt zu sein. Er wird zur Legende verklärt und ist nicht besonders realistisch gezeichnet. Es ist eine außergewöhnliche Geschichte über einfache Menschen, die sich befreien wollen und sich dafür auf eine gefährliche Reise begeben, selbst wenn sie in Gladewater schon enden sollte, denn Hollywood scheint unerreichbar fern zu sein. Wer der Mörder von May Lynn Baxter ist, wird nebenbei aufgedeckt und ist selbst für den erfahrenen Krimileser eine Überraschung. Der Täter hat allerdings schon ein schlüssiges Motiv für seine Tat. Fans von spannenden, eher düsteren Abenteuerromanen werden ihre Freude an „Dunkle Gewässer“ haben.