Dunkle Gewässer - Dieses Buch bewegt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
wortschätzchen Avatar

Von

Sue Ellen, 16 Jahre jung, erzählt in flapsiger Jugendsprache (und einem Slang der „Hinterwäldler“, um es einmal etwas brutal auszudrücken) ihre Geschichte und damit auch die Geschichte ihrer Freunde und Familie. Sie erzählt sehr bildhaft – und ausgerechnet den Fund der Leiche ihrer Freundin May Lynn Baxter schildert sie absolut emotionslos. Das wirkt entsetzlich desillusioniert. Es zeigt aber auch, wie kaputt Sue Ellen schon ist und bei der Schilderung ihres Vaters, der Mutter und des Onkels fragt sich der Leser auch nicht, woher das wohl kommen mag. Überhaupt entdeckt man in Sue Ellens Umfeld nur Armut und soziale Abgründe. Gewalttätige Männer und sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung. Die Zeiten sind hart: Farbige sind an Schulen nicht zugelassen; es interessiert aber auch niemand, ob die Kinder der Weißen zur Schule gehen.

Sue Ellen und ihre Freunde müssen miterleben, wie ihre Freundin May Lynn Baxter aus dem Sabine River gezogen wird – die Hände mit Draht auf dem Rücken gefesselt, an den Füßen eine Singer-Nähmaschine. Ein Unfall kann das kaum sein – aber niemand forscht nach. Zufällig entdecken sie May Lynns Tagebuch und einen Hinweis auf eine vergrabene Beute aus einem Raubüberfall. Sie finden das Geld und eine weitere Leiche. Es steht fest, dass ihre Heimat durch und durch schlecht ist und so schnell auch nicht besser wird. So beschließen die Freunde, auf dem Sabine River, dem größten Fluss von Texas, mit der Asche von May Lynn und der Beute in eine bessere Zukunft zu schippern. Doch das klingt einfacher, als es tatsächlich ist, zumal auch andere hinter dem Geld her sind ...
So „rotzig“ Sue Ellens Ausdrucksweise auch oft ist, so wunderschön kann sie auch sein. „... eine stille, dünne Frau mit Haaren wie feuchter Weizen und einem Gesicht, in dem die ganze Traurigeit der Welt lag.“ Das liest sich nicht nur gut, das brennt sich auch ins Gedächtnis und hinterlässt Spuren in der Seele! Nach und nach stellt man fest, dass Sue Ellen so vieles erlebt hat, das eine 16-Jährige nicht hätte erleben sollen, dass es kein Wunder ist, dass sie sarkastisch wurde. Joe R. Lansdale spielt wunderbar mit der Sprache. Mit der Sprache der Jugend während der Zeit der großen Depression ebenso, wie mit der Sprache aller anderen Beteiligten und seiner eigenen als Erzähler. Er lässt Sue Ellen ihre Geschichte in der Ich-Form erzählen und zieht damit den Leser direkt ins Geschehen mit ein.

Unweigerlich fühlt man sich an „Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ und „Wer die Nachtigall stört“ erinnert. Das gefällt mir sehr gut, auch wenn dieses Stilmittel schon bei Craig Silveys „Wer hat Angst vor Jasper Jones?“ verwendet wurde. Lansdale lässt ein Mädchen, eben Sue Ellen, die Rolle des Huck übernehmen – also schon eine leichte Abwandlung des bekannten Themas. So oder so – es liest sich gut, fesselt, macht Spaß, ängstigt, lässt lachen und weinen – alles in einem einzigen Buch! Wie könnte man das nicht lieben?!

Für mich ist „Dunkle Gewässer“ ein kleines Juwel, das ich immer mal wieder lesen werde. Eine Geschichte wie der Fluss, an und auf dem sie spielt: mal ruhig, mal reißend, mal gefährlich, mal Lebensader, stets verändernd und nie stillstehend. Leben pur. Und ich werde alle lesenden Freunde dazu nötigen, es ebenfalls zu lesen, denn ich bin davon überzeugt, man hat etwas verpasst, wenn man es nicht gelesen hat! Aber Vorsicht: sobald man damit angefangen hat, möchte man es nicht mehr aus der Hand legen. Also am besten an einem lazy afternoon beginnen, damit man genug Zeit hat!

Der Nachteil eines solchen Buches: danach sind die meisten Bücher nur noch Mittelmaß und man braucht sehr lang, um ein Buch zu finden, das annähernd so bewegt und nachhallt.