Spannendes Zeitportrait mit sprachgewaltigen Bildern

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Am Sabine River in Osttexas fischt Sue Ellens Vater am liebsten mit unreifen Walnüssen oder mit Dynamit, das ist am bequemsten. Die Fische treiben betäubt auf dem Wasser und er braucht sie nur noch abzuschöpfen. Auch als er eines Tages eine Leiche aus dem Wasser fischt, würde er sie aus reiner Bequemlichkeit am liebsten wieder ins Wasser werfen. Doch seine Tochter Sue Ellen und ihre Freunde Terry und Jinx erkennen in dem toten Mädchen ihre Freundin May Lynn, das schönste Mädchen im Ort, das immer davon träumte nach Hollywood zu gehen und dort berühmt zu werden. Die Jugendlichen beschließen, dass wenigstens ihre Asche den Weg nach Hollywood finden soll und als sie beim Durchsuchen von May Lynns Sachen auf eine Karte stoßen, die zu der Beute eines Banküberfalls führt, sehen sie die Chance, ihrem trostlosen, von Gewalt geprägten Leben zu entfliehen. Doch bald schon sind ihnen habsüchtige Verwandte und der wenig gesetzestreue Constable auf den Fersen. Ob es stimmt, dass der sagenumwobene Fährtenleser „Skunk“ auf sie angesetzt wurde? **„Ich komme mir vor wie ein Vogel, dem jemand auf dem Schwanz steht. Ich kann nicht fliegen.“** (S. 99) Joe R. Lansdales neuer Roman spielt wie schon „Die Wälder am Fluss“ am Sabine River in den 1930er Jahren. Das Leben der Menschen im Osten Texas' ist geprägt von Armut, Gewalt, Alkoholismus, Misshandlungen und Trostlosigkeit. Rassismus ist allgegenwärtig und bietet so manchem ein Ventil, den eigenen Frust loszuwerden. Die Wälder am rauschenden, wilden Sabine River bieten Stoff für Mythen wie den Ziegenmann und den Skunk, die gleichermaßen Faszination und Grauen auslösen. Die Geschichte wird aus der Sicht Sue Ellens erzählt. - Ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich sicher ist, niemals ein Leben wie ihre Mutter führen zu wollen, ohne zu wissen, wie sie dem entkommen soll. Gewohnt wortgewaltig beschreibt Lansdale nicht nur das einfache Leben der Menschen, sondern auch ihre Gefühle und Gedanken, Sehnsüchte, Zweifel und Hoffnungen. In nur wenigen Sätzen zeichnet der Autor zum Beispiel ein Bild vom Vater Sue Ellens, das sofort lebendig wird und den Leser sich angewidert abwenden lässt. Die detailverliebten Beschreibungen von verwesenden Leichen lassen einem geradezu den Gestank von Verwesung um die Nase wehen, und doch ist es immer gerade noch am Rand des Erträglichen. Doch nicht nur sprachlich vermag „Dunkle Gewässer“ zu überzeugen. Die Handlung zieht den Leser sofort ihn ihren Bann und immer sobald sie in ruhigere Gewässer kommt, lauern schon weitere Stromschnellen und Strudel, die die Protagonisten in Lebensgefahr bringen. Bei aller Düsternis und Beklemmnis ist es erleichternd, wie sich Lansdales Figuren versuchen, selbst aus dem Sumpf zu ziehen, in den das Leben sie geworfen hat. Entweder voller Hoffnung und Glaube oder aber desillusioniert und realistisch wie Jinx, die mit ihren frechen Sprüchen über Gott selbst einen Reverend zum Schweigen bringen kann. Nachdem ich bereits den Roman „Die Wälder am Fluss“ kenne, fallen mir etliche Parallelen auf. Nicht nur, dass der Ort der Handlung ähnlich, wenn nicht derselbe ist, auch die Figuren sind ähnlich angelegt. Ebenso taucht der Lynchmord an einem unschuldigen schwarzen Jungen wieder auf – auf genau dieselbe grausame Weise. Anders als „Die Wälder am Fluss“ würde ich „Dunkle Gewässer“ jedoch nicht als Krimi bezeichnen. Zwar gibt es eine Leiche, aber letztendlich geht es nicht um die Suche nach dem Mörder. Die Reise am Fluss entlang, stets auf der Flucht und immer auf der Suche nach ein bisschen Glück, Freiheit und Freude im Leben hat mich dieses Mal tatsächlich an Huckleberry Finn erinnert. Joe R. Lansdale ist mit „Dunkle Gewässer“ wieder einmal ein spannendes Zeitporträt mit einer spannenden Geschichte gelungen, geprägt von eindringlichen Bildern in einer direkten Sprache. © Tintenelfe