Schuldig oder nicht schuldig

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leukam Avatar

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Elisa Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht. Da verwundert es nicht, dass sich ihr Debutroman mit juristischen Fallgeschichten auseinandersetzt; einige davon beruhen auf wahren Begebenheiten.
Die Protagonistin Eva Herbergen ist Strafverteidigerin und beschließt mit Anfang Sechzig ihre Anwaltszulassung zurückzugeben und ihren Dienst zu quittieren. Wie viele Menschen hat sie in ihrem langen Berufsleben durch deren „ dunkelsten Momente“ begleitet, für sie gekämpft und gestritten vor Gericht? „ Einige von ihnen waren schuldig, andere unschuldig, die meisten beides.“
Aber es sind ihre eigenen „ dunklen Momente“, die sie hinter sich lassen will, Fälle, bei denen sie an sich selbst gezweifelt hat. War ihr Eingreifen angemessen oder hat sie sich womöglich sogar schuldig gemacht?
Im Rückblick sind es ingesamt neun Fälle in ihrer beruflichen Laufbahn, weshalb sie nun ihre Arbeit aufgeben will.
Da gibt es den alten Mann, der einen Einbrecher erschießt. Aber ist das tatsächlich Notwehr oder eine völlig überzogene Reaktion? Und wie ist sein späteres Verdrehen der Tatsachen zu beurteilen? Während man noch über diesen Fragen grübelt, nimmt die Geschichte erneut eine überraschende Wendung.
Das ist ein Merkmal, das viele der ansonsten ganz unterschiedlichen Fälle eint: ein Twist, der alles nochmals in einem anderen Licht erscheinen lässt.
In einem weiteren Fall wird ein Mord vertuscht. Im nächsten eine junge Frau vergewaltigt; zehn Männer sind schuldig, elf kommen dafür ins Gefängnis.
Einmal erweist sich ein Verdächtiger als weitaus abgefeimter und manipulativer als gedacht.
Ein anderer Fall wirft die Frage auf, ob wir uns in Deutschland, in einem Land, das Sicherheit und behütete Kindheiten kennt, anmaßen dürfen, über einen Kriegsverbrecher aus Afrika zu urteilen. Vor allem dann, wenn bekannt wird, dass dieser Mensch, der unvergleichlicher Verbrechen beschuldigt wird, selbst als Kindersoldat rekrutiert wurde.
Alle Fälle zwingen den Leser dazu, einen Standpunkt zu beziehen, denn hinter jeder Tat steckt eine komplexe Vorgeschichte. Wie beurteilt man ein Verbrechen? Kann man Verständnis für den Täter aufbringen? Ethische und moralische Fragen treiben den Leser um und nicht selten hadert man mit dem Gerichtsurteil. Hier zeigt das Buch ganz deutlich die Grenzen von Recht und Gerechtigkeit.
Diese Fragen treiben auch die Staatsanwältin Eva Herbergen um. Sie arbeitet mit unkonventionellen Methoden und bewegt sich sehr oft in juristischen Grauzonen. Dabei überschreitet sie gerne auch mal rechtliche Grenzen oder greift zu zweifelhaften Mitteln. Das irritiert den Leser und lässt ihn an der Integrität der Anwältin zweifeln.
Eva Herbergen begründet ihr fragwürdiges Verhalten mit einem Fall aus ihrer Vergangenheit. Dort hatte sie versagt und die Schuldgefühle lassen sie seither nicht mehr los. Was damals konkret geschehen ist, wird erst im neunten und somit letzten Fall geklärt. Auf ihn wird immer wieder verwiesen. Der Fall „ Stefan Heinrich“ ist die „ Mohrrübe“, die dem Leser vor die Nase gehalten wird, die ihn durch das Buch ziehen soll.
Und damit sind wir bei einem Grundproblem des Romans. Es hätte dieser Rahmenhandlung nicht bedurft, es hätte nicht mal eine durchgängige Hauptfigur gebraucht. Diese Anwältin, die sich sehr oft unprofessionell verhält, sich Fakten zurechtbiegt, unrechtmäßig eingreift und sich sogar zum Komplizen machen lässt, wirkt unglaubwürdig.
Auch erzähltechnisch ist dieses Konstrukt nicht gelungen. Alle Geschichten werden nach dem gleichen Schema erzählt. Das langweilt mit der Zeit.
Mich hätte ein Erzählband mit Fallgeschichten, die in keinem fiktiven Zusammenhang stehen, mehr überzeugt. ( Wobei ich auf die Geschichte mit dem Kannibalen gerne verzichtet hätte.)
Trotz diesem Kritikpunkt habe ich das Buch gerne gelesen. Denn jedes Kapitel bot sehr viel Stoff für kontroverse Diskussionen, sowohl das Verbrechen an sich als auch seine Auswirkungen auf Täter und Opfer und die Strategie der Anwältin . ( Deshalb würde sich dieser Episodenroman geradezu für Lesekreise anbieten.)
Außerdem liest sich das Buch leicht und ist unglaublich fesselnd.