Wenn du nicht verdächtig bist, mach dich einfach mal verdächtig?!

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laberlili Avatar

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“Dunkles Lavandou” ist zwar bereits der sechste Band rund um den Gerichtsmediziner Leon Ritter, den es dereinst von Frankfurt in die Provence verschlagen hat; nichtsdestotrotz lässt sich dieser Roman auch ohne jegliche Vorkenntnisse lesen: Zwar spielt Ritters Privatleben, in dem er mit einer hochrangigeren lokalen Polizistin liiert ist, eine kleine Rolle und wird hier nicht völlig außen vor gelassen, aber alles, was man darüber wissen muss, wird gesagt oder erschließt sich leicht aus dem Kontext. Generell liegt die Konzentration der Handlung definitiv auf dem Kriminalfall, bei dem man als Leser*in zum Einen gleich zu Beginn mit einer offensichtlich in einer Art Kerker gefangengehaltenen Frau konfrontiert wird, wobei es zunächst unklar bleibt, ob es sich hierbei um einen Rückblick in die Vergangenheit handelt, ob die Frau mit der zuletzt aufgefundenen Leiche übereinstimmt, ob es sich hierbei um eine bislang gänzlich Unbekannte handelt… ihre Identität wird erst im weiteren Verlauf entschleiert. Die jene Gefangene betreffenden Szenen tragen zum Anderen sehr zur Spannungskurve bei, da man, auch wenn man damit rechnet, dass jene Frau inzwischen bereits getötet wurde, ahnt, dass sie nichtunbedingt die Erste und schon gar nicht die Einzige ist, der dieses Schicksal widerfährt. So wird einem als Leser*in schnell klar und noch ehe im Roman das Verschwinden der Ministertochter zur Sprache kommt, dass diese Ermittlung letztlich ein Wettlauf gegen die Zeit sein wird.

Mir hat sehr gefallen, dass „Dunkles Lavandou“ eher rasant beginnt: Es gibt kein großes Vorgeplänkel, der Kriminalfall ist mit der vermeintlichen Brückenspringerin quasi sofort da. Außerdem mag ich hier generell, dass sich die Reihe um einen Gerichtsmediziner dreht und da geht es auch in „Dunkles Lavandou“ natürlich häufig darum, was er warum aus welchen Untersuchungsergebnissen schließt; ich finde es wirklich toll, dass in dieser Krimireihe der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn deutlich betont wird. Da fand ich es allerdings schade, dass auch in diesem Band häufig davon die Rede ist, dass Leon „so ein Gefühl“ hat: Wenn mehrere Leichen z.B. so viele Kratzer haben, dass sie ein bestimmtes Muster ergeben, sollte der lokale Polizeiboss das weder als Zufall noch als „Einbildung“ des Gerichtsmediziners abtun, sondern davon ausgehen, dass diese Muster von Bedeutung sind. Es gab doch vergleichsweise viele Szenen, in der Leon gefragt wurde, ob etwas „tatsächlich sein Ernst“ wäre, wo ich nur dachte, dass die Untersuchungsergebnisse doch wohl offensichtlich wären.
Weiterhin hatte ich ungefähr nach ungefähr der Hälfte des Romans einen kleinen Durchhänger: Hier wurde für mich ersichtlich, wer höchstwahrscheinlich als Täter überführt werden würde, und während der nächsten drei, vier Kapitel schien mir das Buch nur noch unnötig in die Länge gezogen worden zu sein, ehe dann auch die Polizei deutlich mehr in Fahrt kam. Das größte Manko bezüglich der Geschichte bestand für mich eindeutig darin, dass eben plötzlich ständig zu wem gerannt wurde, der eigentlich weder mit dem Fall noch überhaupt mit der Polizei irgendetwas zu tun hatte (so dass ich eben dachte: „Okay, du bist also der Böse; sonst ergibt deine wiederholte Einbindung in die Handlung überhaupt gar keinen Sinn“), während zugleich plötzlich zig Figuren völlig konstruiert wirkend auf der Bildfläche erschienen, die allesamt verdächtig waren bzw. sich so krass verdächtig verhielten als solle dem Lesepublikum gaaaaaanz uuuunbedingt klargemacht werden, dass die mit dem gleichen Gedankengang wie ich ihn auch hatte sich ganz bestimmt auf eine falsche Fährte hatten locken lassen. Selbst der große Showdown wird letztlich noch damit eingeläutet, dass sich Figuren dermaßen komplizenhaft verhalten, dass das noch dubioser wirkt als jener Verdächtige, der sich in Bezug auf ein Opfer noch entschuldigte, dass „er das nicht gewollt“ habe: Ähm, was soll er denn nicht gewollt haben? Die Beiden kannten sich ganz offensichtlich gar nicht?! Dann gibt es noch einen Todesfall „out of the box“, bei dem es dargestellt wird als habe der Betreffende vor seinem Tod noch eine Entdeckung gemacht, die mit dem Fall in Verbindung stünde und wegen derer er dann hatte sterben müssen, aber nach dem Lesen weiß ich immer noch nicht so recht, worüber Derjenige eigentlich gestolpert sein sollte. Diesen Todesfall hätte man sich meiner Meinung nach komplett aufsparen können.
Dieses ganze „falsche Spuren legen wollen“ führte meines Empfindens allerdings auch dazu, dass generell die Figuren, die aufgrund ihres persönlichen/beruflichen Hintergrunds und der Todesumstände der Opfer von vornherein als verdächtig hätten gelten müssen, von der Polizei irgendwie „übersehen“ wurden; es gab definitiv zwei Figuren, bei denen ich nicht verstanden habe, wieso sie nicht sofort überprüft worden waren, nachdem Leon die These der, christlich begründeten, Ritualmorde dargelegt hatte. Gut, in dem Fall wäre die zweite Hälfte des Buchs definitiv bald zu einem abrupten Ende gekommen.

Obschon das jetzt grad doch sehr negativ klang, habe ich das Buch insgesamt aber eben doch gerne gelesen, was eben auch stark daran liegt, dass hier der rechtsmedizinische Aspekt stark fokussiert wird; mit den Leon-Ritter-Büchern könnte ich vermutlich deutlich weniger anfangen, wenn in denselben Geschichten statt Leon hier Isabelle die eindeutige Hauptrolle spielen würde.
Vor Allem begeisterte Krimileser*innen sollten hier jedenfalls nicht auf den großen Überraschungseffekt lauern; ich denke, wer neuer im Genre ist, wird sich hier eventuell noch eher zu neuen, anderen, falschen Verdächtigungen hinreißen lassen, aber ich bin überzeugt, dass 99% aller eingefleischten Krimifans hier am Ende sagen werden: „Habe ich doch schon die ganze Zeit gesagt, dass das der Mörder ist.“