Kristallklar und scharfsinnig

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donna vivi Avatar

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Nesbø – für mich zum ersten Mal. Obwohl die Beschreibung im kurzen Abschnitt sich auf eine Person (Elise) bezieht, stellt sie ziemlich gut den ersten Eindruck über die Leseprobe dar: melancholisch, zurückhaltend, effizient, mit dunklen Geheimnissen. Auch wenn das noch lange nicht alles an verwendeten Stilmitteln war.

Die Ereignisse werden sachlich und verwirrenderweise aus mehreren Blickwinkeln betrachtet. Doch wer könnte der Täter und wer das Opfer werden? Von Anfang an liest man in der Erwartung, dass sofort etwas Furchtbares passieren würde. Unter diesen Umständen gelingt es dem Autor leicht, die Leser reinzulegen. Die Szene mit der Andeutung von Gassigehen mit einem Hund ist bitterböse – allein mit einer harmlosen Hundeleine lässt Nesbø das Blut in den Adern gefrieren. Doch in diesem Augenblick kommt es nicht zur Gräueltat.
Da jedoch immer wieder Mord und Tod in den Gedanken der Figuren präsent sind, rechnet man ständig mit einem brutalen Angriff. Selbst die Musik in der Kneipe von „Bad Company“ lässt etwas Böses vermuten.

Im Übrigen tragen weitere Elemente zum anspruchsvollen Lesespaß bei. Auffallend ist die kritische Betrachtungsweise des Onlinedatings. Sehr abwertend und ernüchternd sind die Feststellungen zur romantischen Illusion bei Tinder (wobei damit sicherlich nicht nur ein Datingportal gemeint ist). Hervorgehoben werden die starke Abhängigkeit, der Leichtsinn und die Sehnsucht nach Selbstbestätigung bei der intelligenten jungen Anwältin, die die Situation bestens durchschauen und die Gefahr erkennen könnte.

Gewisse Figuren versprechen von Anfang an besondere Momente. Kriminalkommissarin Katrine Bratt liefert Frauenpower, der junge Ermittler Anders Wyller, mit dem schiefen Grinsen und scharfen Verstand ist sofort sympathisch, Kommissar Truls Berntsen mutiert schnell zur Witzfigur. Schlagfertige Dialoge mit ironischem Unterton lockern die derben Scherze über der blutüberströmten Leiche auf. Die Spannung ist nicht nur im Laufe der Geschichte, sondern auch zwischen den Protagonisten gegenwärtig.

Nicht zuletzt werden die Leser durch Oslo gelotst. Die detaillierten Wegbeschreibungen wirken realistisch und führen durch die norwegische Hauptstadt.

Insgesamt klingt die Leseprobe dieses Kriminalromans auch literarisch vielversprechend mit einem scharf gezeichneten Gesellschaftsbild. Kritisch, dabei kristallklar mit präziser Ausdrucksweise.

„Schweigend betrachteten sie den Leichnam. Wie ein junges Paar in einer Kunstausstellung, das überlegt, mit welchen Gedanken der andere zu beeindrucken wäre...“