Recht, Gerechtigkeit, Moral, was zählt am meisten?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
elke seifried Avatar

Von

Markus Thiele hat in seinem „Echo des Schweigens“ mehr als gekonnt Realität am Beispiel eines der größten Justizskandale der Bundesrepublik, dem Fall Oury Jalloh in Dessau, in Fiktion eingebettet, sodass ein mehr als fesselnd, bewegender Roman entstanden ist, der mich von Anfang an gefangen genommen hat.

Juli 2018: Der 43. Verhandlungstag am Landgericht Magdeburg, Strafverteidiger Hannes Jansen will gerade zum Schlussplädoyer ansetzen, der Freispruch für Polizist Winkler, der wegen Mordes an einem Asylbewerber angeklagt ist, ist sicher, für Hannes der berufliche Durchbruch schlechthin. Doch dann bringt ihm seine Referendarin ein Notizbuch. Darin enthalten, neue Beweise, die Winkler als Mörder überführen könnten. Wie wird Hannes Jansen sich entscheiden?

Als Leser wird man dann erst einmal einige Monate vor die Verhandlung manövriert. Man lernt Hannes, seinen luxuriösen Lebenswandel, auch über seine finanziellen Grenzen hinaus, kennen, bekommt dann von seinem Chef Boorgs 45 Aktenordner mit einem Fall Winkler, der im Jahr 2005 schon einmal verhandelt wurde, verbunden mit den Worten: „Wenn der Fall so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann mache ich Sie zum Partner, umgehend.“. Ein satter Bonus noch dazu in Aussicht, damit wären alle finanziellen Sorgen auf einen Schlag Vergangenheit. Dass der Fall überhaupt neu aufgerollt wird, ist der Verdienst von Pathologin Sophie, die ein neues Gutachten erstellt hat, das besagt, dass der verbrannte Senegalese sich in seiner Zelle nicht selbst angezündet haben kann. Aber Sophie ist im Moment erst einmal damit beschäftigt, sich um die Beerdigung und den Nachlass ihrer Mutter zu kümmern. Darin findet sie nun auch endlich einen Hinweis auf ihren Vater, um den ihre Mutter so ein Geheimnis gemacht hat und zudem noch einige alte Fotografien. Eines davon zeigt Daphne, eine angebliche Freundin ihrer Mutter. Bei einer Versteigerung, bei der sie sich mehr über diese ominöse Daphne zu erfahren erhofft, trifft sie zufällig auf Hannes, der dort ein Grundstück für seinen Vater ersteigern soll. Die beiden verlieben sich ineinander, erleben tolle gemeinsame Stunden, bis Hannes erfährt, genau diese Sophie hat das Gutachten erstellt und will Winkler unter allen Umständen als Mörder verurteilt sehen. Mehr darf man eigentlich fast gar nicht verraten, weil man dem Roman unheimlich viel an Spannung nehmen würde.

Neben der spannenden Liebesgeschichte und dem emotionenschürenden Gerichtsfall bekommt man zudem noch eine berührende Suche nach Sophies Vater und Einblicke in eine erschreckende Vergangenheit der Familie geboten. „Wenn man eine Schweigeminute für jedes Opfer des Holocaust einlegen würde, wäre es elf Jahre lang still auf der Erde.“, sind die Worte eines Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde Berlin. Das erfährt man bei einem Besuch der Stolpersteine im Berlin von heute. Der historische Handlungsstrang, in dem Sophie auf Ahnenforschung geht, widmet sich ihren Großeltern, ihren Eltern und deren Verwandten und spielt zu weiten Teilen in der Zeit des Nationalsozialismus. Allzu viel darf man hier eigentlich auch gar nicht verraten, weil das langsame Aufdecken, das Rätsel um die Personen auf den Bildern, die sie im Nachlass ihrer Mutter findet, ebenfalls erheblichen Anteil an der Spannung dieses Romans hat. Nur so viel vielleicht, man erfährt von einem mehr als bewegenden Schicksal und muss schockierende Szenen, wie z.B. Sterilisationsversuche im KZ Ausschwitz miterleben.

„…dass Sie dem deutschen Volke eine Demütigung zugefügt haben, als sie intim waren mit einer Nichtarierin? Was sind Sie denn für ein Mensch? Es ekelt mich geradezu, wenn ich mir gewahr werde, welch widerwärtiges Verbrechen Sie begangen haben.“ Rechtsprechung, die Bindung an Recht, und durch den historischen Strang auch der Vergleich zwischen Drittem Reich und unserer heutigen Demokratie, aber auch das eigene Rechtsempfinden, was ist, wenn es die eigene Person oder Familie betrifft, sind die Themen, die der Autor mehr als gekonnt aufs Tapet bringt und darum herum einen fesselnden Roman strickt, der zudem mit einer aufreibenden Liebesgeschichte punkten kann.

„Boogs wusste genau, in welchem Zwiespalt sich der junge Kollege befand, er selbst war oft genug Teil dieser Maschinerie gewesen. Es war immer misslich, wenn der Mandant die Tat begangen hatte. Dann kam man sich als Anwalt benutzt vor, vor den Karren gespannt, der Mandant log und lachte dabei, das durfte er, er durfte sogar das hohe Gericht anlügen und die Staatsanwältin und den Rest der Welt, das Gesetz sanktionierte das nicht, und als Anwalt musste Boogs oft genug den Steigbügel halte und gleichsam die Klappe, sonst hätte er sich strafbar gemacht, das Gesetz nannte das Parteiverrat.“ Markus Thiele ist Anwalt, er kennt den Gerichtssaal mit all seinen Facetten, eine Tatsache, die mich ebenfalls an diesen Roman gelockt hat und ich habe mir nicht zu viel versprochen. So lässt er den Leser z.B. immer wieder durch seine Augen auf alle an der Verhandlung Beteiligten blicken. Auch die innere Zerrissenheit könnte jemand, der sie nicht schon selbst einmal erlebt hat, sicher nicht so grandios darstellen, wie es dem Autor hier gelingt. „Boogs ich möchte nicht unhöflich sein, aber was bedeutet für Sie: den Job gutmachen? Freispruch um jeden Preis? Gewissen aus. Taktik an?“ und „Es ist nur immer dieselbe Frage, weißt du? Wie weit geht man als Strafverteidiger? Wo verlaufen die eigenen Grenzen?“

Mit seinem einnehmenden Schreibstil hat mich der Autor von der erste Seite ab in seinen Fängen gehabt. Er gelingt ihm hervorragend Atmosphäre entstehen zu lassen und mit seinen vielen Bildern und Vergleichen, hat er bei mir fast einen Film im Kopf entstehen lassen. So hatte ich z. B. nicht nur die Hamburger Hafencity oder die Schweizer Berge rund um Zermatt, sondern auch „Nur Wasserleichen sind unappetitlich, so graublau und aufgedunsen. Wie Hefeklöße mit Pflaumenkompott.“, mehr als deutlich vor Augen. Super gut hat mir gefallen, dass ich immer wieder auch ob der pointierten Formulierungen und kleinen Spitzen schmunzeln durfte. Da hat der Bürgermeister natürlich für eine Beerdigung keine Zeit, weil Tote ja bekanntlich keine Stimme mehr bei der Wahl bringen, dem Pfarrer ist es bei einer anderen Bestattungsformen um die entgangenen Friedhofsgebühren und ab und an denkt auch jemand im Gerichtssaal schon an die Mittagspause oder den freien Nachmittag.

Hannes Jansen war mir, obwohl ich sonst mit solchen Männern, die auf übergroßem Fuß leben, so gar nicht kann, eigentlich sympathisch und ich konnte mich stets super gut in ihn hineinversetzen. Auch die eher bodenständige Sophie mochte ich von Anfang an und ich habe mich gern mit ihr auf Spurensuche begeben. Sehr bewegt hat mich im historischen Strang Carl, der zu seiner Liebe steht und auch das Schicksal, das Lea zu erleiden hat, hat mich richtig ergriffen. Die Darsteller sind allesamt sehr authentisch dargestellt.

Alles in allem volle Begeisterung für diesen fesselnden Roman und fünf mehr als verdiente Sterne.