Kann man vom Leben schreiben?

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Die vorgenommene Aufgabe sich mit einem anderen Leben auseinanderzusetzen, nämlich das der eigenen Mutter, ist Wolf Haas auf ungewöhnliche Weise angegangen.
Der Roman behandelt die letzten drei Tage im Leben der im Sterben liegenden 95 jährigen Mutter. Anfänglich ironisch distanziert doch humorvoll beschrieben aus der Sicht des Sohnes. Dazu die Berichte der Mutter und das Wiederentdecken der Umgebung, dort, wo der Sohn selbst aufgewachsen ist.

Kann man vom Leben schreiben? - ein schwieriges Unterfangen. Dieses 95jährige Leben birgt Umstände und Erfahrungen, die heute kaum noch nachvollziehbar sind, doch mit Staunen begreift man die Situation der vom Krieg und seinen Auswirkungen geprägten Frau. Eine sterbende, eine aussterbende Zeitzeugin! Was heute das eigene Selbstverständnis ausmacht, war nicht immer gegeben. Mit ihrem Leben dem Sohn nicht immer erträglich, so betrachtet er distanziert, ironisch teils unvoreingenommen doch auch genervt und lässt das Leben, das vergeht noch einmal Revue passieren: eine Erinnerung an die Mutter, eine Betrachtung und ein Abschiednehmen.

Aus den Erinnerungen, teils Mutter, teils Protagonist fließen die Gedanken, Erinnerungsfetzen werden ins Bewusstsein geholt, überprüft, angeschaut und weiterverfolgt. Es ergibt sich eine Zeitgeschichte, so kurios und unterhaltsam geprägt von Lebensabschnitten der Sterbenden und den Erinnerungen und Wahrnehmungen des Sohnes.
Mit 12 Jahren musste die Mutter Strümpfe ausbessern der jungen Männer, dort, wo sie arbeitete, das sogenannte Pflichtjahr eines jungen Mädchens (um sie auf die zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorzubereiten). Der Sohn stellt sich vor: „Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles.“

Der Sohn betrachtet das Leben seiner Mutter und gibt ihr durch dieses Erzählung nicht nur ein Andenken, er beleuchtet ein Stück Zeitgeschichte, ungewöhnlich verpackt und dargestellt. Kaum noch begreifbar, wie es damals um das Überleben und den Wunsch nach Sicherheit ging, den Umständen von Politik und Wirtschaftslage ausgesetzt, die Geldentwertung mitzuerleben, die Inflation, mit dem Wunsch des Eigentums - Sparen, sparen, sparen. Durch die Wiederholungen der Mutter wird zunehmend deutlich, wie schwierig so ein Verhältnis werden kann, ständig sich einzulassen, ihr zuzuhören, zu reagieren, auch wenn die im Sterben liegende schon nicht mehr geistig in der Gegenwart verankert ist.
Nach ihrem Tod empfand ich die Geschichte zunehmend mühseliger. Dennoch ist die Geschichte sehr berührend, stellt sie ein Verhältnis von Sohn zu Mutter auf ungewöhnliche Weise dar. Stilistisch sehr gelungen und beeindruckend. Der Roman beschreibt lebendig und eindringlich das Leben.