Eine klassische TäterOpfer-Umkehr

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wandablue Avatar

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Kurzmeinung: Monothematisch - Fokus zu eng.
Bergljot hat sich mit ihrer Familie überworfen, seit Jahren hat sie nur noch durch ihre eigenen Kinder Kontakt zur Kernfamilie, Vater, Mutter, Bruder, zwei jüngere Schwestern. Anlässlich einer Erbschaftsangelegenheit bricht ein alter Konflikt wieder auf, denn es steht ein Missbrauchsvorwurf im Raum.

Der Kommentar und das LeseErlebnis:
Die norwegische Autorin Vigdis Hjorth lässt die Leserschaft in ihrem Roman „Ein falsches Wort“ in den Kopf des Missbrauchsopfers Bergljot schauen, nein, während der Lesezeit lebt man in Bergljots Kopf. Obwohl das Erleben und Erleiden des Missbrauchs in der eigenen Familie eigentlich von der über sechzigjährigen Bergljot bereits bewältigt ist und sie beruflich und familiär erfolgreich gewesen ist, fokussiert sich die Autorin auf diesen einen kurzen Lebensabschnitt, als für die Betroffene alles wieder aufbricht: die Tat durch den Vater, der Verrat durch die Mutter und die Unschlüssigkeit der Geschwister, die nicht wissen, wie sie sich positionieren sollen. Für Bergljot, die unter schweren Schüben von Depression und Dissoziation leidet, ist die Auseinandersetzung mit ihrer Familie immer wieder ein „Kampf auf Leben und Tod“. Der Leidensdruck ist auch auch noch nach Jahrzehnten enorm.
Die Autorin zeigt auf, wie sich Betroffene fühlen. Dabei kommt Bergljot nicht positiv rüber, sie überdramatisiert, wobei ich nicht den Missbrauch an und für sich meine, sondern das ganze Drumherum, das ganze Ego Bergljots, und macht für alles und jedes, was in ihrem Leben nicht gut lief, den Missbrauch verantwortlich. Das geht soweit in Ordnung, da die Protagonistin für sich selber proklamiert, dass Menschen, die Leid erfahren haben, nicht notwendigerweise bessere Menschen wären. Warum auch? Aber warum sollte ich mich für sie interessieren? Ich interessiere mich nicht für Egozentriker. Und es ist nicht meine Familie.
Bergljot kann nicht anders und will auch nichts anderes als dafür zu kämpfen, dass ihre Familie ihre Verletzungen anerkennt, was aber nicht geschieht. Sie will Gerechtigkeit und was sie bekommt, ist Geld. In ihrem Kopf geht es drunter und drüber und sie kreiselt mit ihren Gedanken stets um das eine: wie die anderen reagierten und reagieren und wie sie reagieren werden, dabei ist sie psychotisch und nervt mit ihren ständigen Wiederholungen. Ja, Bergljot nervt. Und dass sie nervt, nehme ich der Autorin übel. Es wäre auch anders gegangen, man hätte mehr Empathie empfunden. Opfer sind jedoch nicht notwendigerweise sympathische Menschen. Das wird schnell klar.Freilich vermittelt die Autorin auch das System gegenseitiger Abhängigkeit – und das macht sie gut und reicht für drei Sterne aus.

Bergljot erzählt jedem, den sie trifft, immer wieder dasselbe (und leider auch mir!), sie ist eine fordernde Person, eine, die verlangt, dass sich die ganze Welt um sie dreht. Deshalb ist es schwer, wenn nicht unmöglich für die geneigte Leserin, eine tiefe Bindung zu ihr aufzubauen und echte Empathie zu empfinden. So mag es freilich vielen Opfern ergehen, die sich in ihrem Leid verbeißen. Doch irgendwann einmal ist man selber dafür verantwortlich, was man aus seinem Leben macht – oder eben auch nicht, selbst dann, wenn man etwas Schreckliches erlebt hat. Wahrhaft schockierend in dem Roman ist es, dass die Familie eine TäterOpfer-Umkehr versucht.
Andererseits ist die Protagonistin, das Missbrauchsopfer, selber kein Unschuldslamm: sie nimmt die ganze Familie in Sippenhaft für das, was ihr passiert ist und ist dabei besonders ihren zwei jüngeren Schwestern gegenüber gnadenlos. Dass das Opfer selber fehlerhaft ist und "Unrecht tut", ist ein großes Plus des Romans. Müssen Opfer denn gut und edelmütig sein? Natürlich nicht.
Bergljot entscheidet sich schließlich und endlich dafür, keine weitere Heilung zu suchen und nimmt eine kindische Haltung ein, sie ist jemand, der den Schorf über einer Wunde immer wieder aufkratzt. "Willst du gesund werden", fragt Jesus einmal in der Heiligen Schrift. Bergljots Antwort, bedauerlicherweise darauf, wäre ein gequältes "Nein".

Sicher ist „Ein falsches Wort“ ein lobenswerter Versuch der Autorin, sich in Missbrauchsopfer einzufühlen. Die Stilmittel der ständigen Wiederholungen verdeutlichen nur zu genau, wie sehr die Protagonistin in sich selber gefangen ist, nerven aber auch unendlich, da man ja alles schon einmal, zweimal und dreimal gehört, sprich gelesen hat.

Fazit: Leider sind Menschen, die sich selbst für den Nabel der Welt halten, bei mir nicht sonderlich beliebt und die Stilmittel der Autorin haben mich nachhaltig abwechselnd verärgert und gelangweilt.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: S.Fischer, 2024, Neuauflage