Gewalt und Düsternis in der amerikanischen Provinz

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buecherfan.wit Avatar

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Joe R. Lansdales Roman “Ein feiner dunkler Riss” (“A Fine Dark Line, 2003) spielt - wie “Dunkle Gewässer” - in East Texas, und zwar in der fiktiven Kleinstadt Dewmont am Sabine River, in der Gegend also, in der auch der Autor aufgewachsen ist. Dort ist die Familie des 13jährigen Stanley Michael Mitchel junior vor kurzem hingezogen. Stans Vater, ehemals Automechaniker, hat ein altes Autokino mit Imbiss gekauft. Die Familie beschäftigt zwei Farbige, Buster, den Filmvorführer, früher Polizist in einem Reservat, und die Haushaltshilfe Rosie Mae. Stan liebt Filme, Comics, seine Roy Rogers Cowboystiefel und seinen Hund Nub. Er hat eine 16jährige Schwester - Callie -, die viele Verehrer hat und gern flirtet, was ihr gelegentlich Ärger einbringt. Stan ist für sein Alter sehr naiv. Bis vor kurzem hat er noch an den Weihnachtsmann geglaubt, ist noch nicht aufgeklärt und überzeugt davon, dass mit der Welt alles in Ordnung ist.

Im langen, heißen Sommer des Jahres 1958 findet er eines Tages in der Nähe seines Elternhauses ein vergrabenes Metallkästchen mit Liebesbriefen von M an J aus dem Jahre 1942. Er weiht seine Schwester ein und entdeckt mit ihr die Reste eines abgebrannten Hauses, das den Stilwinds gehört hat, der reichsten Familie im Ort. Stans Neugier ist geweckt. Er stellt mit Hilfe von Buster Nachforschungen an und findet schon bald heraus, dass damals in einer Nacht zwei Mädchen ermordet wurden: Jewel Ellen, die jüngere Tochter der Stilwinds und Margret, die bildhübsche Tochter der Prostituierten Winnie Wood. Stan, seine Schwester und sein Freund Richard geraten im Zuge ihrer nächtlichen Entdeckungstouren auf der Suche nach spukenden Geistern mehrfach in Lebensgefahr.

Am Ende dieses Sommer ist nichts mehr, wie es war. Für Stan ist es das Ende der Kindheit und der Verlust der Unschuld. Er ist mit Rassismus, Sexualität und Gewalt in allen möglichen Formen und sogar Mord in Berührung gekommen. Er hat in schwierigen Situationen Entscheidungen getroffen und muss mit den Konsequenzen leben.

Joe R. Lansdale hat einen interessanten, recht spannenden Roman geschrieben. Allerdings ist dies kein Krimi, sondern ein ungewöhnlicher Genre-Mix aus Abenteuer- und Detektivroman, Coming-of-Age Story und Sozialstudie einer Epoche und einer Region. Es ist die Zeit der strikten Rassentrennung, wo “Nigger” keine Rechte haben und die Weißen sich bei der “Nigger-Minstrel-Show” mit geschminkten weißen Darstellern schlapp lachen. Stan entwickelt zunehmend ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten und wird Rosie Maes und Busters treuer Freund.

Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive des Jungen, wobei es dem Autor hervorragend gelingt, Sprache, Gedankenwelt und Gefühle des Jugendlichen authentisch zu vermitteln. Etwas seltsam ist dann allerdings, dass Stan erst als Erwachsener, mit Ende 50, die Geschichte dieses einzigartigen Sommers aufschreibt, das letzte fehlende Puzzleteilchen zur Lösung des Rätsels hinzufügt und auf den letzten Seiten mehrere Jahrzehnte seines Lebens und des Lebens der anderen Beteiligten wie im Zeitraffer zusammenfasst. Lansdales Roman gehört zum relativ neuen Genre des Country Noir, hier: East Texas Noir, wo kein Platz ist für falsche Nostalgie und Mythen vom idyllischen Landleben, sondern nur für teils krassen Realismus. Autoren wie Donald Ray Pollock, Daniel Woodrell. Madison Smartt Bell und Joe R. Lansdale konfrontieren ihre Protagonisten mit Gewalt und Verbrechen und zeigen die düstere Seite der amerikanischen Provinz, sozusagen als Gegenbild zum amerikanischen Traum. Am vorliegenden Roman gefällt mir ganz besonders, dass es immer weniger um die Lösung eines Kriminalfalls und immer mehr um das kritische Porträt einer Zeit geht, die wenige Jahre später mit der Bürgerrechtsbewegung ein Ende finden wird. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Leser die Entwicklung des sympathischen jungen Protagonisten mit besonderem Interesse. Ein sehr empfehlenswerter Roman.