Kleines Meisterwerk!

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»Dies ist ein weiblicher Text, geschrieben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wie spät es ist. Wie viel sich verändert hat. Wie wenig. Dies ist ein weiblicher Text, der auch ein ›Caoineadh‹ ist: ein Trauergesang und Klagelied, eine Hymne, ein Choral und eine Totenklage. Stimm ein.« (S. 12)

Mit diesen Worten endet das erste Kapitel dieses autofiktionalen kleinen Meisterwerks »Ein Geist in der Kehle« der irischen Autorin Doireann Ní Ghríofa. Als zweifache Mutter, die mit dem dritten Kind schwanger ist, kommt die Lyrikerin kaum noch zum Schreiben. Seit Jahren spielt sich ihr Leben in den durch häufige Umzüge ständig wechselnden vier Wänden ab: Putzen, Waschen, Kochen, sich um die Kinder kümmern, sie zur Schule bringen, sie anziehen, sie baden, Zeit mit ihnen verbringen, stillen und und und. Tausend kleine und große Aufgaben, die ihre Tage dominieren. Und – man glaube es oder nicht – sie liebt ihr Leben. Sie ist gerne schwanger, freut sich auf Kind Nummer 3, liebt es auf eine ganz eigentümliche Art, hinter Aufgaben und Listen und dem Muttersein zu verschwinden. Und doch sehnt sich ein Teil in ihr danach, gesehen und gehört zu werden. Wie durch Zufall, vielleicht auch Bestimmung, erinnert sie sich an das »Caoineadh«, das Klagelied, von Eibhlín Dubh, eine irische Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts. Das Klagelied ist der Autorin schon mehrmals in ihrem Leben begegnet: in der Schulzeit, auf der Uni und nun wieder. Verschiedene Altersabschnitte, verschiedene Lebensumstände, verschiedene Interessen, die den Zugang zum Inhalt des Klagelieds über die Zeiten verändert haben. Die Autorin fühlt eine starke Verbindung zum Trauergesang, zu Eibhlín. Eibhlín, eine starke Frau des 18. Jahrhunderts, die ihre Familie für Art O'Leary verließ, in den sie sich Hals über Kopf verliebte. Die sich ein Leben mit ihm aufbaute, eine Liebesbeziehung auf Augenhöhe führte. Und für den sie, nach dessen Ermordung, das »Caoineadh« schrieb. 36 Strophen umfasst der Trauergesang, beschreibt ihr erstes Kennenlernen, ihr gemeinsames Leben, das Großziehen der Kinder, seinen Tod, und ihre Gefühlswelt. Die Autorin entwickelt eine Obsession für Eibhlín. Liest jede Übersetzung der Totenklage, die sie finden kann, ist unzufrieden und macht sich schließlich daran, das irische Original selbst zu übersetzen. Die Übersetzung findet man ebenfalls im Roman. In jeder freien Minute, beim Stillen beschäftigt sie sich damit, ja, legt sich sogar eine Kopie unters Kopfkissen. Findet Trost und Verbundenheit im Leben dieser anderen Frau. Doch das reicht ihr nicht. Sie will mehr, will alles wissen über Eibhlín und taucht ein in die Suche nach historischen Aufzeichnungen. Bereits nach kurzer Zeit ist sie von Frustration erfüllt:

»[...] denn je mehr ich lese, desto größer wird meine Wut. Sie richtet sich gegen die einleitenden Absätze, die den Übersetzungen oft vorangestellt sind, schwache Skizzen des Lebens von Eibhlín Dubh, die fast immer aus einer faulen Variante der immer gleichen zwei Fakten bestehen: ›Ehefrau von Art O'Leary‹. ›Tante von Daniel O'Connell‹. Wie umstandslos der akademische Blick sie in einen männlichen Schatten stellt, als könne sie nur als Trabant des Lebens von Männern von Interesse sein.« (S.86)

So beschließt Doireann, selbst nach Antworten auf ihre Fragen zu suchen. Taucht ein in Archive, in Dokumente der Zeit. Liest alles, was sie finden kann. Setzt Stück um Stück das Puzzle zusammen, dass das Leben dieser Frau ausgemacht hat. Es dauert Jahre. Ihre Kinder werden groß und Eibhlín, inzwischen eine Freundin im Geiste, begleitet sie auf jedem Weg: Durch die vierte Schwangerschaft, das traumatische Ereignis der Geburt. Eibhlín ist an ihrer Seite. Gegenseitig verleihen sie sich eine Stimme, verschaffen sich Gehör. Bis der Punkt kommt, an dem Doireann los lassen muss.

Ich könnte so viel schreiben, ich könnte ganze Seiten abtippen. Aber ich will euch nicht des Genusses berauben, dieses wunderschöne Buch selbst zu lesen. Denn das solltet ihr. Ich habe beide in mein Herz geschlossen: Doireann und Eibhlín. Ich konnte nicht mehr aufhören, Doireann dabei zu zu sehen, wie sie versucht, Licht ins Dunkel des Lebens von Eibhlín zu bringen. Ich beobachtete und litt mit Eibhlín. Und ich beobachtete und litt mit Doireann. Ihre persönlichen, autofiktionalen Eindrücke über das Leben, über das Muttersein, über persönliche Entfaltung und Weiterentwicklung, Träume und Hoffnungen, über das Leben als Frau, darüber, wie leicht es ist, wie wir von klein auf lernen, wie es vielleicht sogar in unserer Biologie verankert ist, unser eigenes Leben hinter das von anderen zurückzustellen. Es hat mich gepackt, berührt, gefesselt. Sie war zufrieden, aber sie war auf der Suche. Nach vier Schwangerschaften, vier Kindern unter 10 Jahren, hat sie den Teil von sich verloren, verlegt, vernachlässigt, der Forderungen stellen, Bedürfnisse zulassen und einfordern möchte. Indem sie Eibhlín eine Stimme verliehen hat, hat sie diesen Teil nach und nach wieder gefunden. Dieser Roman ist eine Erzählung, ist leise und leicht und eindringlich. Kommt aus ohne Kitsch, ohne Ausschmückung, ist einfach nur das Leben. Es ist eine Gegenüberstellung: Damals und heute. Tod und Geburt. Milch und Blut. Männlich und weiblich. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Loslassen und festhalten. Aufopferung und Selbstbestimmung. Hingabe und Leidenschaft. Mutter- und Frausein. Und es ist eine Geschichte des Begehrens: Von Körpern, von Wissen. Es ist die Geschichte zweier starker, beeindruckender Frauen. Es ist eine Erinnerung daran, dass beide Jahrhunderte trennen. Jahrhunderte voller Fortschritt. Und dass wir dennoch nach wie vor in einer Welt leben, in denen die Frauen zu kurz kommen. Übersehen werden. Ihre Arbeit – egal ob als Mutter oder als Schriftstellerin – kleiner gehalten wird. Kritisiert wird. Der weibliche Körper, nach wie vor als Allgemeingut gesehen, frei und zugänglich für die ungebetenen, deplatzierten Kommentare, Meinungen anderer. Es ist eine Erinnerung daran, dass Geschichte aus einer überwiegend männlichen und weißen Perspektive erzählt und überliefert wurde. Frauen als Randfiguren, ihre Texte nicht wert, überliefert zu werden. »Ein Geist in der Kehle« ist ein Bruch. Es ist ein weiblicher Text. Stark, laut, eigenwillig, der es verdient hat, gehört zu werden. Auch diese Rezension ist ein weiblicher Text, hat mich Doireann gelehrt. Jedes Gedicht, das ich schreibe. Jede Einkaufsliste, die ich erstelle. Jeden Termin, den ich in den Kalender eintrage. Jede Narbe auf meiner Haut. Wir sind und wir produzieren weiblichen Text. Texte, die es wert sind, gehört, gelesen, gesehen zu werden. Am Ende dieses Romans fühle ich mich beiden Frauen verbunden. Ich bin froh, sie kennen gelernt zu haben. Ich will mehr hören und lesen und sehen von Frauen, die den Mut finden, ihren Träumen nachzugehen. Die den Mut finden, anderen davon zu erzählen. Die Zeit ist mehr als reif für weiblichen Text in all seinen Formen. Denn:

»Ich denke immer wieder an all die öden kurzen Skizzen, in denen diese Frau in den dürftigen Rollen der Tante oder Ehefrau vorgestellt wird, verdeckt vom Schatten der Männer. Wie würde sie wohl im Licht der Frauen erscheinen, die sie kannte?« (S. 92)