Eine epische Erzählung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
marialein Avatar

Von

Graf Alexander Iljitsch Rostov ist ein wahrer Gentleman - gebildet, wortgewandt, aufmerksam und mit einem feinen Gaumen. Er verbringt auf Grund von persönlichen Angelegenheiten einige Zeit in Paris und kehrt schließlich im Zuge der Oktoberrevolution in ein völlig verändertes Russland zurück. Dort wird er auf Grund seines Adelstandes und eines Ihm zugeschriebenen Gedichts verurteilt: Er darf das Hotel Metropol, in dem er derzeit lebt, Zeit seines Lebens nicht verlassen. Das ist ein harter Schlag für den lebensfreudigen Junggesellen.

Doch er ist nicht allein: Er versteht sich gut mit dem Personal und freundet sich auch schnell mit Nina, der kleinen Tochter eines anderen Hotelgasts, an. Diese eröffnet dem Grafen all die Geheimnisse des Hotels und ist auch Jahre später noch ein treuer Begleiter - bis sie von heute auf morgen nach Sibirien nach ihrem gefangen genommenen Ehemann reisen muss. Sie vertraut ihm ihre "fast ganz sicher sechsjährige" Tochter an und verschwindet für immer. Die unerwartete Situation überfordert den unerfahrenen Rostov zunächst, die stille Sofia verunsichert und überrascht ihn permanent. Doch bald besteht eine sehr innige Beziehung zwischen den beiden. Als ihre Mutter nicht zurückkehrt, wird der Graf für Sofia wie selbstverständlich zum Vater.

Der Graf hat trotz allem Komfort kein einfaches Leben. Solange er allein ist, leidet er darunter, wie ihn die Geister der Vergangenheit einholen. Ist er mit anderen zusammen, bekommt er die Last der Verantwortung zu spüren, die er aber schließlich erfolgreich zu tragen lernt.

Wegen des lockeren und lustigen Stils ist man anfangs versucht, den Roman zu unterschätzen. Doch man wird bald eines besseren belehrt. Ein Gentleman in Moskau ist voller Emotion, Weisheit und spannender Wendungen. Doch seine größte Stärke besteht in der Erzählung. Amor Towles wird nicht umsonst für seinen unvergleichlichen Stil gelobt. Geschickt schafft er es, Zeit und Ort des Geschehens und die einzigartigen Charaktere näher zu bringen, immer wieder Abstand zu nehmen und zum Beispiel ein paar Jahre zu überspringen und den Leser wie selbstverständlich wieder direkt ins Geschehen zu führen. Er nimmt kleine Exkursionen zum Zeitgeschehen und anderen Figuren fern des Grafen vor und kehrt elegant wieder zurück. Seine Sprache ist eindrücklich, poetisch, humorvoll und so flüssig, dass man gar nicht merkt, wie die Jahre an Alexander Rostov vorbeifliegen.
Eine weitere große Stärke des Romans ist der Blick fürs Detail und das richtige Timing. So wie der Graf gemeinsam mit den beiden anderen Mitgliedern seines "Triumvirats" mit einer kleinen Zutat dazu beiträgt, dass aus einem Essen ein wahrer Hochgenuss wird, so kann ein Löffel Bienenhonig ein Leben retten und Kleinigkeiten wie Schnee oder die Sitzordnung das Leben eines anderen zerstören.

Die Handlung fügt sich sehr gut in den historischen Kontext ein und macht den Leser mit den wichtigsten Ereignissen in der russischen Geschicht und Kultur vertraut, ohne vordergründig politisch zu sein. Man das Leben, Denken und Handeln der Protagonisten sehr gut nachvollziehen und ist von ihrem Schicksal berührt, ohne den Eindruck zu haben, im Geschichtsunterricht zu sitzen. Besonders sympathisch ist mir Michail, der literaturversessene Freund des Grafen, der so sehr unter der Zensur der Bolscheviken leidet. Sein Fall steht stellvertretend für die Grundstimmung des Romas - einerseits lustig, andererseits auf seine Art dramatisch.

Ein Gentleman in Moskau ist ein berührender Roman, dessen Lektüre den sohwohl Freude bereitet als auch nachdenklich macht. Sehr lesenswert!