Die Vergangenheit ist lang und die Zukunft kurz

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buecherfan.wit Avatar

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Im Mittelpunkt von Karen Thompson Walkers Roman “Ein Jahr voller Wunder” steht die 11jährige Julia mit ihren Eltern Joel und Helen. An einem 6. Oktober erfahren sie wie alle anderen auch, dass sich die Erdrotation verlangsamt - mit zunächst ungeahnten Folgen. Als 23jährige erzählt Julia im Rückblick, was in diesem ersten Jahr der großen Veränderung  bis kurz nach ihrem 12. Geburtstag geschah und wie ihr Leben dadurch beeinflusst wurde. Julia lebt in einer Vorortsiedlung in der Nähe von San Diego. Sie hat eine beste Freundin - Hanna - und verliebt sich in einen gutaussehenden Jungen namens Seth Moreno. Der Leser erfährt von Problemen mit Schulkameraden und der kriselnden Ehe der Eltern. Vieles, was hier berichtet wird, sind die normalen Probleme von Heranwachsenden, aber sie treten auf in außergewöhnlichen Zeiten.

Die Schilderung der Folgen der Verlangsamung der Erdrotation nimmt großen Raum ein und schafft eine beklemmende Atmosphäre. Zunächst sind die Tage nur 56 Minuten länger, später sind es 72 Stunden, schließlich Wochen. Im gleichen Maße verlängern sich die Nächte. Dies hat Auswirkungen auf Flora und Fauna: Wale stranden, Vögel sterben, Obst und Getreide gedeihen nicht mehr. Die Regierung verordnet dem Land die Uhrenzeit, d.h. den alten Rhythmus der 24 Stunden, weil sonst alles aus dem Ruder liefe. Die Gesellschaft ist gespalten in Echtzeiter und Anhänger der Uhrenzeit. Die Abweichler gründen Echtzeitkolonien in der Wüste, aber nach der Echtzeit zu leben, funktioniert auf die Dauer nicht. Die Menschen werden krank, einige sogar wahnsinnig. Auch Julias Mutter wird depressiv, erkrankt an dem Verlangsamungssyndrom. Die Menschen müssen sich durch Stahlverkleidungen und sonnendichte Jalousien vor der immer stärker und gefährlicher werdenden Strahlung schützen. Wer es sich leisten kann, baut ein Gewächshaus und einen strahlensicheren Bunker in seinen Garten.

Julia leidet unter den Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld. Sie verliert ihre beste Freundin, eigentliche fast alle Menschen, die ihr wichtig waren, aber sie überlebt, sonst könnte sie nicht gut zehn Jahre später erzählen, wie es war, wie die Menschen es trotz der zunehmenden Ernährungs- und Energieprobleme, der steigenden Kriminaltiätsrate und neuer Krankheiten schaffen weiterzumachen.

Die Autorin entwirft ein minutiös ausgestaltetes Endzeitszenarium, bleibt aber die “wissenschaftliche” Erklärung schuldig (“Wir stellten nie die Ursache der Verlangsamung fest. Die Quelle unseres Leidens blieb für immer rätselhaft.” S. 309). Der Roman endet nicht optimistisch. Die Welt wird untergehen, die Frage ist nur: wann? ("... die Vergangenheit ist lang und die Zukunft kurz." S. 311). Das Einzige, was zählt, ist das Hier und Jetzt. So können die Menschen im vollen Bewusstsein, dass das Leben des Planeten endlich ist, es dennoch genießen wie Julia und Seth, die als Kinder in den feuchten Zement des Bürgersteigs schrieben: “Wir waren hier.” (S. 313)

Der Roman ist interessant und liest sich gut, hat man erst einmal die unrealistische Prämisse - die Verlangsamung der Erdrotation - akzeptiert. Er ist nicht besonders spannend, denn alles, was passiert, ist nur eine Fortführung und Steigerung der zentralen Idee. Auch ist nicht alles stimmig und logisch, und angesichts der Tatsache, dass die Verlangsamung ein globales Phänomen ist, konzentriert sich die Autorin ein bisschen zu sehr auf kalifornische Mittelschichtfamilien und dabei wieder im wesentlichen auf Julia und ihr Umfeld. Aber allein schon die Tatsache, dass die Autorin einen siebenstelligen Betrag für ihren Debütroman kassierte und manche Kritiker ihn für einen der wichtigsten Romane des vergangenen Jahres hielten, ist Anreiz genug, sich damit zu beschäftigen.