Die erste Avon-Beraterin Deutschlands: Eine spannende und nahbare Beschreibung der 1950er-/1960er-Jahre

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s.edelfrau Avatar

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Ich erinnere mich noch gut an die Avon-Beraterin, die zu uns nach Hause kam, als ich noch ein Kind war. Meine Mutter kaufte regelmäßig Avon-Produkte und so wuchs auch ich ganz selbstverständlich damit auf. Nie zuvor habe ich mir allerdings Gedanken über die Anfänge von Avon gemacht und deshalb war ich auch gleich neugierig, als ich den Klappentext zu diesem Roman las.

Das Buch handelt von Anne, Mitte 30, die 1959 mit ihrem Mann Benno und den 13-jährigen Zwillingen Leo und Lili in Lüneburg lebt. Anne ist unzufrieden mit ihrem Hausfrauendasein, denn Benno lebt nur noch für seine Arbeit und die Zwillinge brauchen die mütterliche Fürsorge immer weniger. Freundinnen hat Anne nicht, denn aufgrund ihres exotischen Aussehens, das sie italienischen Vorfahren zu verdanken hat, sehen die Menschen in ihr noch immer eine Fremde. Zum Glück hat Anne in Margarethe, Bennos Mutter, eine liebevolle Verbündete.

Margarethe ist es auch, die Anne die Kosmetikmarke Avon aus dem fernen Amerika näher bringt und dafür sorgt, dass Anne sich als Avon-Beraterin bewirbt – sehr zum Missfallen von Benno. Der steht Annes Berufstätigkeit höchst ablehnend gegenüber und zu dieser Zeit benötigen Frauen ja noch die Zustimmung ihrer Ehemänner, wenn sie arbeiten gehen wollen. Zwar kann Anne sich letztlich durchsetzen, doch je mehr Erfolg sie damit hat, andere Frauen in Schönheitsdingen zu beraten, desto mehr leidet ihre Ehe.

Denn Benno schleppt kriegsbedingt seine ganz eigenen Traumata mit sich herum. Zu gern möchte er so wie früher der Herr im Haus sein, der erfolgreiche Geschäftsmann, der alleine für seine Familie sorgen kann. Dabei wird der Druck, den er sich selbst macht, langsam, aber sicher zu viel für ihn.
Auch bei Annes Eltern hat der Zweite Weltkrieg Spuren hinterlassen: Ihr über alles geliebter Sohn ist im Krieg gefallen. Schon als Kind fühlte Anne sich ungeliebt, jetzt als Erwachsene findet sie gar keinen Zugang mehr zu ihren verbitterten Eltern. Und so häufen sich die Probleme der Familie immer mehr auf bis zum dramatischen Finale.

Ich habe dieses Buch mit wachsender Begeisterung verschlungen. Und das nicht nur wegen des Themas Avon und Kosmetik, sondern vor allem deshalb, weil der Roman ein ganz wunderbares Bild der späten 1950er- und der beginnenden 1960er-Jahre zeichnet: Langsam kommt die Wirtschaft in Deutschland wieder in Schwung, die sogenannten Wirtschaftswunderjahre stehen bevor, doch die tiefen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sind noch lange nicht verheilt. Und vor allem die jungen Leute stört es massiv, dass die Alten nicht über die Geschehnisse sprechen wollen.

Gleichzeitig wächst die Faszination für die große weite Welt und insbesondere für die USA: Da ist der lösliche Kaffee, den Margarethe so gerne trinkt, oder die Rock’n’Roll-Musik, die Leo so gerne hört. Der Wettlauf um die Eroberung des Weltalls, die immer weiter voranschreitende Abschottung der DDR (das Buch endet mit dem Bau der Berliner Mauer)… so viele Themen dieser ereignisreichen Zeit werden hier angesprochen und durch Anne und ihre Familie erlebbar gemacht.

Im Klappentext heißt es, Anne sei die erste Avon-Beraterin Deutschlands gewesen. Im Nachwort des Romans erläutert die Autorin, dass Anne eine fiktive Romanfigur ist, aber tatsächlich hat die Firma Avon im Jahr 1959 eine deutsche Tochtergesellschaft gegründet und daraufhin hier ihren Siegeszug angetreten, vor allem in ländlichen Gebieten, wo Frauen damals nur wenig Zugang zu Pflege- und Schönheitsprodukten hatten, sich gleichzeitig aber nach den kleinen Dingen des Lebens sehnten, die den Alltag ein wenig schöner und bunter machten.

Zuguterletzt wird im Roman auch die Stadt Lüneburg so anschaulich beschrieben, dass ich daraufhin im Internet ein wenig nachgeforscht habe. Vor allem der Stintmarkt kommt im Buch häufig vor und sieht auf aktuellen Bildern, wie ich finde, genauso einladend aus, wie er im Roman dargestellt wird.

Fazit: Ein wirklich lesenswerter Roman, der einem die damalige Zeit sehr anschaulich näher bringt.