Gelungen, unterhaltsame Zeitreise

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elke seifried Avatar

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»Pflegecreme für die Hände? Wat ’n dat für ’n Tüdelkram? Auf unsere Flossen schmiern wir Melkfett. Dat wirkt Wunder. Sachense der Margarethe, so ’n Schiet brauchen wa nich’.«

Einfach ist er nicht, der Weg der ersten Avon-Beraterin, von dem die Autorin in ihrem Roman erzählt, der einen gelungen in die Welt zwischen Wirtschaftswunder und häuslicher Enge eintauchen lässt.

„Kurz bevor er sie geküsst hatte, war sie aufgewacht. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen. Erschrocken fuhr Anne hoch und wischte sich energisch über das Gesicht. Sie war in ihrem ganzen Leben keine Heulsuse gewesen und würde im Alter von vierunddreißig Jahren gewiss nicht damit anfangen. Selbst wenn Benno nur noch im Traum zärtlich zu ihr war. Selbst wenn ihre Zukunft sich wie ein weites Stoppelfeld vor ihr ausbreitete – leer und nutzlos.“ Seit ihr Ehemann Benno sich von dessen altem Schulfreund zur Eröffnung eines Möbelhauses überreden hat lassen und die beiden Zwillinge mit Dreizehn aus dem Gröbsten heraus sind, ist Anne alles andere als glücklich in ihrer Rolle als treusorgender Ehefrau, Heimchen am Herd und Mutter. Genau das hat ihre Schwiegermutter Margarethe längst erkannt und deshalb einen ausgeklügelten Plan entwickelt. »Wie gesagt, ich habe die Bewerbung für dich nach Hamburg geschickt. Wahrscheinlich melden sich sehr viele junge Frauen auf die Anzeige, aber ich denke, du hast durchaus eine Chance.« Davon hatte sie Anne bereits am vergangenen Sonntag erzählt. Die amerikanische Kosmetikfirma Avon wollte den Kosmetikmarkt in der Bundesrepublik erschließen und suchte per Zeitungsannoncen Mitarbeiterinnen.“

Als Leser begleitet man Anne Jensen auf ihrem Weg hin zur erfolgreichen Avon-Beraterin, erlebt die Startschwierigkeiten als eine solche, die Querelen, die es dafür erst mit ihrem Ehemann Benno auszufechten gilt und auch, welche Probleme sich als arbeitende Mutter ergeben. Die Autorin lässt einen dabei mit ihrem Roman gelungen in die Atmosphäre der Zeit eintauchen. Die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs sind noch deutlich spürbar, so leidet nicht nur Annes Mutter unter starken Depressionen, sondern auch Anne und Benno träumen noch oft von den schrecklichsten Erlebnissen. Nicht selten fehlt das nötige Verständnis für die Nachkriegsgeneration. »Langweilig, ja?« Benno lachte, aber es war ein bitteres Lachen. »Ihr armen jungen Leute habt es ja so schwer.« Seine Stimme troff jetzt vor Spott. »Ihr habt so schrecklich viel Freizeit, dass ihr nicht wisst, was ihr mit euch anfangen sollt. Das nenne ich ein hartes Schicksal.«. Im Hintergrund bekommt man zudem immer wieder Hinweise zum politischen Geschehen. „Das schöne neue Leben konnte jederzeit vorbei sein. Da musste ja nur irgendein Mensch in Moskau oder Washington auf den falschen Knopf drücken, und schon ging die Welt in einem Atompilz unter.“ Kalter Krieg, das Rennen um die Raumfahrt oder auch die letzten Flüchtenden aus der DDR, sind nur ein paar Stichworte. »Im Krieg und beim Wiederaufbau sollten wir Frauen gefälligst wie die Kerle schuften. Aber danach haben uns die alten Politikersäcke in Bonn zurück ins letzte Jahrhundert geschickt. Jetzt dürfen die meisten von uns nur noch das Heimchen am Herd sein. Eine Riesenschweinerei ist das!«. Äußerst gelungen ist auch die Rolle der Frau mit Margarete, der aufgeschlossenen Vorkämpferin und Anne, die sich so langsam aus ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter heraus traut, thematisiert. »In Amerika wird an einer ganz neuen Art von Empfängnisverhütung geforscht.« »Aha.« Sie war jetzt dunkelrot im Gesicht, da war sie ganz sicher. »Ja, stell dir vor. Eine Tablette für die Frau.« »Eine Tablette? Wie soll das funktionieren?« Margarethe hob die rundlichen Schultern.“ Gut haben mir außerdem der Blick auf neueste Entwicklungen in Amerika in dieser Zeit und solch kleine Detailinformationen gefallen, wie z.B. „Seit zwei Jahren hatten viele Polizeibeamte das Motorrad gegen eine grüne Isetta mit dem weißen Stern auf den Türen tauschen dürfen. Die Polizisten waren heilfroh, dass sie nun vor Wind und Wetter geschützt waren.“

Der lockere, plaudernde Sprachstil der Autorin liest sich äußerst flüssig. Viele humorvolle Szenen und pointierte Dialoge, für die vor allem Annes Schwiegermutter Margarete sorgt, machen das Lesen zum unterhaltsamen Vergnügen. Durch den verschlagenen Geschäftspartner von Benno und die bildhübsche Verkäuferin im Möbelhaus versucht Kristina Engels Spannung zu erzeugen, was ihr größtenteils auch sehr gut gelingt. Nicht ganz so glücklich war ich vielleicht mit dem Ende, aber das tat der guten Unterhaltung insgesamt nicht viel Abbruch. Gut gefallen hat mir, dass kapitelweise abwechselnd aus Bennos und Annes Sicht erzählt wird, was einen beiden näher sein lässt, Verständnis für deren Handeln schafft und auch ihre Entwicklung gekonnt nachvollziehbar macht.


Die Charaktere sind allesamt authentisch, lebendig und mit ganz viel Persönlichkeit gezeichnet. Mein heimlicher Favorit war Bennos Mutter Margarete. Die Frau, die sich so wenig darum schert, was andere über sie denken, die gern Tacheles redet und genau durchschaut, wie sie ihrem Sohn auf die Finger klopfen und ihrer Schwiegertochter unter die Arme greifen muss. Benno und auch Anne sind beide in ihrer Veränderung, ihrer Gedankenwelt und auch ihren Emotionen äußerst realistisch dargestellt. Anne mochte ich sofort so richtig gern und auch Benno ist in seinem Handeln nicht verkehrt für die Zeit und war mir durchaus sympathisch. Auch Nebenrollen sind facettenreich und echt.

Alles in allem ein unterhaltsamer historischer Roman, bei dem es ganz knapp nicht mehr für fünf Sterne reicht. Aber sehr gute vier und eine Leseempfehlung sind auf jeden Fall drin.