Welches Leben ist möglich?

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Franz ist 18 Jahre alt, als er 1944 bei Cherbourg nach der Landung der Amerikaner in der Normandie in Gefangenschaft gerät. Er stammt aus Essen-Katernberg, Bergmannsfamilie, der Vater ein linientreuer SA-Mann, der ältere Bruder nach einem Unfall kriegsuntauglich. Als Prisoner of War wird er nach kurzer Übergangszeit mit vielen weiteren verschifft und in die USA gebracht. Fast schon fasziniert erlebt er die Einfahrt nach New York an der Seite von Paul, den er auf dem Schiff kennengelernt hat. Paul wird zu seinem Kompass in der ersten Zeit, denn er ist ein Rückkehrer. In den 1930er Jahren ausgewandert aus Ostfriesland, hat Paul sich freiwillig für den Dienst in der Wehrmacht gemeldet und kehrte in die alte Heimat zurück, nun in die neue Heimat als Gefangener. Die beiden werden in ein Gefangenenlager in Hearne, Texas gebracht und bei der Ernte, Kartoffeln und Baumwolle eingesetzt. Franz lernt englisch und gute von schlechten Kameraden zu unterscheiden, was im täglichen Lagerleben sehr wichtig wird. Nach einiger Zeit wird er verlegt nach Utah, dort arbeitet er als Übersetzer und erlebt dort auch das Kriegsende und die Aufklärung über die Verbrechen der SS und der Wehrmacht. Hier stellt er die Weichen für sein weiteres Leben, so wie insgesamt die Zeit der Gefangenschaft sein Leben, seine Einstellungen prägen wird bis ins hohe Alter. Sie wird bestimmen, welche Entscheidungen er trifft, wo er sich zu Hause fühlt, wie er mit Frau, Tochter und Schwiegersohn umgehen wird.
In der Gegenwart schwebt Franz zwischen Unglaube und Faszination, als er sich nach so langer Zeit dank Google Maps aus der Vogelperspektive seinen Stationen in den USA nähert und der Wunsch entsteht, zurück zu kehren. Sein Enkel Martin schlägt kurzer Hand eine gemeinsame Reise vor und ist gespannt, mit dem „Alten“ auf Spurensuche zu gehen.
Und dann ist es sicher wie in vielen Familien, natürlich weiß jeder, dass der Großvater, der Vater in Gefangenschaft war. Auch wo, wann, wie lange. Vielleicht kennt man eine Episode oder zwei. Aber ganz sicher nicht die Wahrheit, die Details. Das Grauen, die Gewalt, die Gerüche, die Menschen, die menschlichen Abgründe, die Angst, den Hunger. Martin erfährt sehr vieles, dass er nicht mal im Ansatz wusste, aber doch behält der Großvater noch mehr für sich selbst, erlebt es nur als innere Retrospektive, und so mit ihm auch der Leser. Zurück in Deutschland möchte er dann doch ein wenig mehr mit der Vergangenheit aufräumen, sucht den Kontakt zu seiner Tochter Barbara, schickt ihr ein dickes Paket mit Briefen und Fotos, erzählt und erklärt. Vielleicht zum ersten Mal im Leben berichtet er von seiner Einstellung, seinen Gefühlen, seinen Wünschen und Plänen, die er damals hatte und wie viele er davon verwarf. Und auf ein jahrzehntelanges, „wie kann er nur so sein…“ folgt dann zum ersten Mal so etwas wie die Erkenntnis, dass er sich vielleicht auch selbst gerne anders gehabt hätte, aber eben nicht mehr die Wahl hatte. Man wählt „ein mögliches Leben“, weil es das ist was zur Verfügung steht.
Hannes Köhler wählt ein ungewöhnliches Sujet für einen Roman. Eines, auf das man ganz sicher nur kommen kann, wenn man persönlich davon berührt ist. Ausgehend von den Erzählungen über einen Großonkel hat er mit weiteren Zeitzeugenberichten und Recherchen einen dichten, emotionalen Roman geschaffen, der den Leser mitnimmt, ohne zu trostlos zu werden. Gelungen finde ich die Mischung aus Rückblenden, gegenwärtigem Geschehen, da jedoch nicht nur des „Alten“ sondern auch der anderen Generationen. Auch wenn es Franz vergleichsweise gut ging (tatsächlich ist der Umgang der amerikanischen Armee mit ihren Gefangenen nicht vergleichbar mit dem der anderen Alliierten, nicht nur in Russland auch in Frankreich herrschten völlig andere Maßstäbe was Versorgung, Behandlung und Dauer der Gefangenschaft angeht) , muss man sich immer vor Augen halten, was es für einen 18-jährigen Jungen bedeutet haben muss, dies zu erleben, auch wenn er ein ganzes Leben auch nach seiner Rückkehr noch vor sich hat. Sehr gelungen finde ich in diesem Zusammenhang das Cover, sozusagen als Sinnbild: Die Welt mag nicht vollständig auf den Kopf gestellt sein, aber sie ist auch weit davon entfernt, in der Waage zu sein. Sie ist einfach verrutscht, versetzt, anders ausgerichtet und jede weitere Orientierung muss von diesem Punkt aus neu angegangen werden.