Weltkriegsgeschichte mit etwas anderem Ansatz

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annajo Avatar

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Normandie, Frankreich, 1944: Franz Schneider sollte Teil einer Gegenoffensive werden. Stattdessen sitzt er im Sand und wartet auf seinen Abtransport. Als Kriegsgefangener der Amerikaner. Rund 70 Jahre später geht er mit seinem Enkel auf Spurensuche. Zusammen besuchen sie die alten Stätten der Kriegsgefangenschaft in den USA und langsam erzählt Franz die wahre Geschichte, wie er einen seiner Finger verlor. Auch befasst er sich endlich mit seiner Tochter, die nun selbst im hohen Alter ist und die ihren Vater nicht in guter Erinnerung hat.

"Ein mögliches Leben" hat zwei Hauptthemen. Einerseits geht es um Familien, die Beziehungen untereinander und das Erbe von einer Generation zur nächsten. Jede der vier Generationen der Familie hat ihre eigenen Themen und Probleme im Beziehungsbereich, die meiner Meinung nach nicht zwangsläufig auf den zweiten Weltkrieg zurückzuführen sind, sondern die jede Familie auch mit anderem Hintergrund treffen könnte. Welcher Mensch leidet nicht irgendwo unter den Unzulänglichkeiten der eigenen Eltern. Diese Geschichte zeigt lediglich, wie die einzelnen Figuren geprägt sind von den Verhaltensweisen und Problemen der vorherigen Generationen.
Das zweite Hauptthema des Buches ist die Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten in den USA. Das ist für mich der spannendere Teil, denn mir war nie bewusst, dass die Gefangenen wirklich nach Amerika verschifft wurden. Und auch nicht, dass viele Gefangene auch da noch von Hitlers kurz bevorstehendem Sieg überzeugt waren. Zusammenstöße mit nicht linientreuen Kameraden sind vorprogrammiert. Und so wird die Gefangenschaft zum Albtraum, obwohl es den deutschen Soldaten bei den Amerikanern teilweise erheblich besser geht als an der deutschen Front.
Franz bleibt die ganze Zeit eine zwiespältige Figur, aber dadurch immer besonders glaubwürdig. Martin ergänzt ihn gut, wenn auch meist nur als Nebendarsteller. Erzählt wird die Geschichte in drei großen Abschnitten. Zunächst verfolgt man die Reise durch Amerika und was diese an Erinnerungen aufdeckt. Anschließend rollt Franz' Tochter die weiteren Ereignisse mit Hilfe von alten Dokumenten auf. Und schließlich füllt eine Rückblende in die 1940er die Lücken. Mich hat lediglich der Sprung zwischen der Reise und der Tochter gestört, da er sehr abrupt war.

Insgesamt habe ich die in vielen Rezensionen angedeutete Auswirkung der Geschichte auf die familiären Beziehungen so nicht gefunden. Die Familiengeschichte hätte meiner Meinung nach vor jeder Kulisse stattfinden können. Der historische Teil selbst hat mich aber sehr gefesselt und mir noch einmal einen neuen Blickwinkel auf ein viel behandeltes Thema ermöglicht. Hier habe ich richtiggehend mitgefiebert. Man merkt die intensive Recherche und noch mehr Eindruck macht die Geschichte durch die Tatsache, dass sie auf Zeitzeugenberichten aufbaut. Franz' Alter macht auch deutlich, dass es diese bald nicht mehr geben wird. Für mich ein insgesamt gelungenes Buch.