Der letzte Akt

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theresia626 Avatar

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„Ein seltsamer Ort zum Sterben“ (im Original „Norwegian by Night“) von Derek B. Miller erzählt die Geschichte des 82jährigen amerikanischen Juden Sheldon Horowitz. Er ist ein ehemaliger Marinesoldat und war als Scharfschütze im Koreakrieg, auch wenn seine verstorbene Frau Mabel ihn als langweiligen Angestellten in Pusan sah, der niemals an Kampfhandlungen teilgenommen hat. Sheldon genannt „Donny“ begeisterte sich nach dem Krieg für die Fotografie und wird ein bekannter Fotograf. Später, als Mabel und Sheldon ihren Sohn Saul bekommen, eröffnet er ein Antiquitäten- und Uhrmachergeschäft. Dann stirbt Saul in Vietnam bei einer Such- und Rettungsaktion - ein schmerzlicher Verlust, den Sheldon niemals verkraftet hat. Er gibt sich die Schuld für seinen Tod. Nach dem Tod seiner Frau Mabel bittet ihn seine Enkelin Rhea nach Oslo zu ziehen. Rheas Großmutter hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie sich um ihren Großvater kümmern wird, den sie liebevoll Papa nennt und den sie über alles liebt. Ihre Großeltern haben sie großgezogen.
Jetzt ist es Sommer, und Rhea und Lars leben in der Nähe des Troyenparken, eine Gegend, die Sheldon wie die Bronx vorkommt, weil immer mehr Menschen aus Pakistan und vom Balkan ins Land kommen. Lars arbeitet als Spieleentwickler und Rhea ist Architektin. Eines Tages gibt es einen lauten Knall im Haus und wenig später steht eine junge Frau vor Sheldons Tür. Sie presst eine pinkfarbene Schatulle von der Größe eines Schuhkartons an sich, und ein kleiner, verängstigter Junge schmiegt sich an ihren Bauch. Sheldon vermutet, dass es sich um eine Asylbewerberin handelt, die in seinen Augen in Oslo nichts zu suchen hat. „Seine erste Regung ist Mitleid. Nicht für die Person, die sie ist, sondern für die Umstände, denen sie ausgeliefert ist.“ (S. 42) Er lässt sie und ihren kleinen Sohn in die Wohnung. Später versteckt er den Jungen vor den Mördern seiner Mutter im Schrank und flieht mit ihm. Seiner Enkelin hinterlässt er eine Botschaft, in der Hoffnung, dass sie sie versteht.

In „Ein seltsamer Ort zum Sterben“ begegnet der Leser sorgfältig charakterisierten Figuren. Sheldon fühlt sich entwurzelt und in seiner Unabhängigkeit bedroht. Er spricht kein norwegisch, ist grantig, stur, eigensinnig und hochintelligent. In Rheas Augen hingegen ist er eigenartig, weil er ständig mit den Toten spricht und senil, weil er öfters in der Vergangenheit unterwegs ist. Doch dem ist nicht so. Sheldon hat ein tiefes Mitgefühl für seinen jungen Gefährten, den er „Paul“ nennt und als Wikinger verkleidet. In seiner Verkleidung wirkt der Junge wie ein gespenstischer und gefürchteter skandinavischer Krieger. Sheldon nutzt seine im Koreakrieg erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten um die kosovarischen Verfolger zu überlisten, und der Polizei so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Er vertraut niemandem, nur sich selbst und hält öfters Zwiesprache mit seinen verstorbenen Freunden Bill und Mario, die ihn während seiner Flucht ermutigen und ihm Ratschläge geben. Hauptthema des Buches ist der Krieg. Derek B. Miller beschäftigt sich in seinem Roman mit der Zeit, als Hitler den USA den Krieg erklärte, dem Koreakrieg, dem Krieg in Vietnam und den Kriegen auf dem Balkan in den 90er Jahren. Chefinspektor Sigrid Ødegård, die für die Mordermittlung an der Serbin Senka zuständig ist, hat sich auf das organisierte Verbrechen spezialisiert und nach dem ersten Verhör von Rhea und Lars kommt sie zu dem Schluss, dass ein 82-jähriger dementer amerikanischer Scharfschütze angeblich von koreanischen Killern in Norwegen verfolgt wird, nachdem er Zeuge eines Mordes wurde. (S. 65) Dass sie damit zunächst auf einer vollkommen falschen Spur ist, wird ihr erst klar, als sie die geheimnisvolle Botschaft, die Sheldon seiner Enkelin hinterlassen hat, entschlüsseln kann.
Erzählt wird in wechselnder Perspektive mit zahlreichen Rückblenden, die den Leser mit der Vorgeschichte vertraut machen. Neben der Geschichte von Flucht und Verfolgung und dem Versuch des alten Mannes, das Kind zu retten, kommen zahlreiche andere Themen zur Sprache, die den Roman zu einer anspruchsvollen Lektüre machen. Dem Autor ist ein spannender, sehr lesenswerter Romanerstling gelungen, der mir sehr gut gefallen hat.