Ein Sommer aus Stahl

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sissidack Avatar

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Italien - Piombino - die Via Stalingrado. Anna und Francesca, beide 13 Jahre alt, sind Freundinnen, beste Freundinnen, Freundinnen fürs Leben, niemand kann sie jemals auseinanderbringen. So zumindest haben sich die Beiden es vorgestellt. 13 - ein wundervolles Alter! Alt genug, um zu wissen, wie man sich kleiden und benehmen muss, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, aber noch nicht alt genug, um die wirklichen Konsequenzen ihres Tuns absehen zu können. Zwei Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden - alles ist leicht, schön und einfach. Kleider, Make-up, Jungs, der erste Kuss, der erste Sex. Den Strand vor der Haustür, Elba in Sichtweite. Und alles vor dem Hintergrund eines Stahlwerkes, der großen Konstante in Piombino. Der Ort, an dem die Männer des Ortes ihr Leben fristen. Soweit man das, was in und um Piombino geschieht, „Leben“ nennen kann. Tag für Tag Arbeit, Bar, Drogen, Alkohol, ein paar Stunden Schlaf und wieder Arbeit. Kein Entkommen.

 Und mittendrin Anna und Francesca. Zwei Mädchen, wunderschön - sich dessen bewusst-, die ihre jugendlichen Reize in Szene zu setzen wissen und einzig und allein darauf aus sind, die Jungs der Umgebung - einige Jahre älter als Francesca und Anna, bewundernswert mit ihren Motorrollern und Autos, mit dem Ziel, möglichst schnell möglichst viel junge Dinger ins Bett zu kriegen - auf sich aufmerksam zu machen. Knappe Bikinis, Volleyballspiele am Strand, Händchenhalten - und zu hause ein Vater, der seine Tochter schlägt, ein anderer, der nie zu hause ist, wenn man ihn braucht. Beide von ihren Töchtern und Ehefrauen verhasst.

Francescas Vater beobachtet seine Tochter heimlich per Fernglas vom Balkon seiner Wohnung aus und sobald seine Tochter nach hause kommt, setzt es Prügel. Eine gebrochene Nase, ein verletztes Handgelenk, aber die kleine Schlampe hat es ja nicht anders verdient. Was läuft sie denn so aufreizend am Strand herum und flirtet mit den Jungs? Zu hause soll sie bleiben und sich um den liebenden Vater kümmern. Doch Francesca hasst ihren Vater. Und ihre Mutter hat einfach nicht genug Mut, den alles entscheidenden Schritt zu tun ihn anzuzeigen und die Scheidung einzureichen. Also erträgt die Familie stillschweigend die Tyrannei. Der behandelnde Arzt fragt nicht nach und auch die Nachbarn, die genau wissen, was hinter Francescas Verletzungen steckt, schauen weg. Nur Anna sieht nicht weg, aber was kann sie schon tun? Nichts! Außer ihrer Freundin die Zeit, die sie fern von ihrem gewalttätigen Vater verbringt, so angenehm  wie möglich zu machen.

Anna und Francesca verbringen jede freie Minute miteinander. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als ein Junge in Annas Leben tritt. Die erste wirkliche Liebe - zweifellos etwas ganz Besonderes. Doch Francesca kann und will Anna diese Liebe nicht gönnen - denn in Wahrheit liebt sie Anna.  Es kommt zum Streit zwischen den beiden scheinbar untrennbaren Freundinnen - einem Streit, der alles verändert. Kein gemeinsames Schaulaufen mehr vor den Jungs am Strand, nicht mal zusammen auf ein großes Fest in Piombino gehen die beiden. Anna und Francesca sind dort, Anna mit Mattia - ihren Freund, Francesca alleine. Wie sich wieder aneinander annähern? Einfach miteinander reden als wäre nie etwas vorgefallen? Nein - keine Chance! Und so gehen die beiden Unzertrennbaren getrennte Wege - Anna auf eine höhere Schule, Francesca, nachdem sie ihr Vater nicht mehr zur Schule gehen lässt, schließlich zum Gogo-Tanzen in eine nahe Bar. „Wie eine Schlampe läuft sie rum, deine Freundin!“ - also Anna das hört, bricht für sie eine Welt zusammen. Aber nicht nur der Streit mit Francesca bedrückt Anna. Ihr Vater, ein Nichtsnutz, der es in seinem ganzen Leben noch nie zu etwas gebracht hat, verschwindet plötzlich, kommt als scheinbar reicher Mann zurück nach hause, verschwindet wieder. Weder Anna noch ihre Mutter noch Anna Bruder Alessio wissen, wohin er geht. Bis eines Tages die Polizei auftaucht. Annas Vater ist Kunsthändler, doch keiner von der legalen Sorte. Gut, dass er weg ist, untergetaucht, hoffentlich für immer. Und Alessio arbeitet im Stahlwerk, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Bis zu diesem unendlich furchtbaren verhängnisvollen Tag, als er, verliebt wie ein Schuljung, während der Arbeit versucht, seine Geliebte, die inzwischen in der Chefetage des Stahlwerkes arbeitet, anzurufen. Arbeitsschutz ist für die Arbeiter im Stahlwerk ein Fremdwort, Hauptsache, man wird fertig und kann möglichst früh wieder nach hause, in die Bar, sich seine Drogen reinziehen. Erregt und gedankenverloren kniet Alessio irgendwo auf dem Areal des Stahlwerkes, als ein Stapler, so hoch mit Metall beladen, dass ihm keine Sicht mehr frei blieb, ihn überfährt. Keine Überlebenschance. Was von Alessio übrig ist, als der Stapler zurückgefahren wird, ist eine breiige, blutige Masse, nichts menschliches mehr. Es könnte genauso gut eine der vielen Katzen sein, die im Stahlwerk ihre Dasein fristen. Blutiger, breiiger, mit ein paar Haaren versehener Matsch. Gerade eben noch ein Mensch gewesen, verliebt, in der Blüte des Lebens - im nächsten Moment schon nicht mehr da. Anna ohne Bruder.

Und Francesca geht strippen, nachts, heimlich, obwohl sie sich vor ihrem Vater nicht mehr zu verstecken braucht, denn der ist ein Krüppel. Ein Unfall mit dem Motorroller, keine körperlichen Verletzungen mehr, aber er weigert sich, sich selbständig zu bewegen. Allein Francesca darf, nein muss ihn pflegen. Und zu Ausgleich zieht sie sich vor anderen Männer aus, lässt sich Geld in den Tanga stecken und liebt doch nur Anna.

Eines Morgens kommt Francesca von der „Arbeit“ nach hause, Anna steht auf dem Balkon. Noch immer haben die beiden kein Wort miteinander geredet. Anna hebt die Hand und winkt und Francesca, unwissend, was über sie gekommen ist, geht einfach an ihrer Wohnung vorbei einen Stock höher, zu Anna. Klingeln. Die Tür wird geöffnet, Francesca tritt ein, gerade recht zum Frühstück. Aller Streit, aller Hass, alle verletzten Gefühle sind vergessen. Sie sind wieder vereint. Die beiden untrennbaren Schönheiten der Via Stalingrado sind wieder zusammen. Die Welt ist wieder in Ordnung.

 

Kein leichter Lesestoff. Knallhart, unbeschönt, mit allen schönen und hässlichen Details beschreibt Silvia Avallone das Leben in einer Stahlarbeiterstadt - in Piombino. Ich habe mitgelitten, mit Anna, die Francesca zwar liebt, auf eine Weise, wie sich Freundinnen aus Kindertagen nun einmal lieben, aber ihr Herz doch an Mattia vergeben hat. Und mit Francesca, die ihren Vater hasst, und Anna liebt und sonst nichts und niemanden. Und mit den Männern im Stahlwerk. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie solche Arbeit sein muss.

Das Buch hat mich gefesselt. Man erlebt jeden Tag, jede Minute als wäre es ein Teil des eigenen Lebens, noch einmal jung sein, sich verlieben, mit allen Höhen und Tiefen. Die schrecklichen Erlebnisse um Alessios Tod im Stahlwerk. Ich habe sie durchlebt, in meinen Träumen.

Nachdenken, durchdenken, Konsequenzen für das eigene Leben ziehen. Selten hat ein Buch mich derart mitgerissen.

 

Negativ ist mir aufgefallen (was nicht an der Autorin sondern wohl eher am Verlag liegt), dass das Cover des Buches, zumindest was meine Vorstellung angeht, nichts mit dem Piombino zu tun hat, welches Silvia Avallone beschreibt. Das Cover vermittelt Urlaubslaune, den idyllischen Traum einer Ferieninsel, alles hell und freundlich, weißer Sand, junge Menschen, Erholung. Im Hintergrund ein Stahlwerk, irgendwie im Dunst, leicht unscharf, nicht real. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Das Stahlwerk ist real, es bestimmt den Tag - den Rhythmus des Lebens von jung und alt, Mann und Frau, ja sogar von den Katzen, die dort Leben. Der Strand spielt nur eine untergeordnete Rolle im Leben der Bewohner von Piombino und Erholung scheint ein Fremdwort für die Familien der Via Stalingrado. Und idyllisch ist in der Via Stalingrado nichts, aber auch nicht das kleinste Detail. Ein gewalttätiger Vater strahlt ebenso wenig Idylle aus wie einer, der nur alle Nase lang mal zu hause erscheint, meist Ärger mitbringt und schließlich wegen seiner kriminellen Machenschaften auch noch von der Polizei gesucht wird.

 

Silvia Avallone  hat mit „Ein Sommer aus Stahl“ ein Werk geschaffen, dass mich das schöne Leben, das so viele von uns führen, aufs schärfste hinterfragen lässt. Andere Menschen plagen sich und schuften unter fast schon unmenschlichen Bedingungen und wir genießen die Früchte ihrer Arbeit ohne auch nur im geringsten eine Ahnung davon zu haben, wie viel Schweiß, Dreck und Blut dahinter steckt. Hauptsache, der ICE kommt pünktlich auf die Minute. Welche Arbeit allein in den Gleisen steckt, auf denen er fährt - wer will sich darüber schon den Kopf zerbrechen?! Das traumhafte Italien, dass wir alle zu kennen glauben hat auch seine dunklen, stahlgrauen Seiten, schmutzigen und verschwitzten Seiten- Seiten, die für mich nach der Lektüre diese Buches nie mehr in Vergessenheit geraten werden.