Erinnern, Verstehen und Verzeihen – eine Familiengeschichte

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Die Ich-Erzählerin ist Giulia, eine der beiden erwachsenen Töchter des Protagonisten, der seit acht Monaten verwitwet ist und sich mit der neuen Lebenssituation nur schwer zurecht findet. Seine drei Kinder haben sich andere Wohn- und Arbeitsorte gewählt, was er nicht recht verstehen kann – und das, obwohl er früher selbst weltweit als Ingenieur im Brückenbau tätig und nur selten zu Hause in Turin war. Jetzt ist er häuslich und sehnt sich nach der Familie.

Am titelgebenden Sonntag hat er beschlossen, seine älteste Tochter Sonia mit Mann und Kindern zum Essen einzuladen. Zum ersten Mal schlägt er das Kochbuch seiner verstorbenen Frau auf und bereitet ein mehrgängiges Menü zu. Er möchte wieder Leben im Hause haben:
„Ihm lag viel daran, dass sich die Wände der Wohnung am Lungo Po Antonelli von Zeit zu Zeit mit Stimmen vollsogen: Ihr Nachklang würde sacht daraus hervorsickern und ihn ein paar Tage lang wie ein Grundrauschen begleiten.“ (S. 35)

Doch leider muss die Familie absagen, weil eines der Kinder unglücklich vom Baum gefallen ist und ins Krankenhaus muss. Der Großvater ist nervös, kann aber nicht helfen, so dass er einen Spaziergang am Fluss unternimmt. Dort lernt er Elena und ihren Sohn Gaston kennen, einen leidenschaftlichen Skateboardfahrer. Die beiden Erwachsenen kommen ins Gespräch, schließlich lädt der alte Mann beide zu sich nach Hause zum Essen ein. Dieses Zusammentreffen entwickelt eine angenehme Aura. Man fühlt sich wohl, hört einander zu und bringt den anderen weiter. Gaston ist beglückt angesichts der leckeren Mahlzeit und dem kreativen Hobby des alten Mannes.

Die Begegnung mit Elena macht aber nur einen Teil des Buches aus. In vielen weiteren zeitversetzten Episoden und Retrospektiven erinnert sich Giulia an ihre Familie. Die Mutter war eine fröhliche Frau, die ihre eigenen Ambitionen zurückstellte, um sich ganz Mann und Kindern zu widmen. Sie war der Mittelpunkt der Familie, während ihr Mann meist woanders war. Giulia meint damit nicht nur die körperliche sondern noch eine andere Art von Abwesenheit:
„Manchmal wirkte er, als wäre sein Interesse für uns – wie soll ich es ausdrücken? – rein vertraglich: als hätte jemand ihm die Gebrauchsanweisung vorgelesen und er versuchte sie zu befolgen.“ (S. 111)

Giulia spürt eine schwer definierbare Distanz zu ihrem Vater, der sie auf den Grund kommen will. Lange schon haben beide nicht mehr miteinander gesprochen, ohne dass es dafür eine konkrete Ursache geben würde. Die Tochter fühlt sich vom Vater nicht anerkannt. Als Kind hatten die beiden ein liebevolles Verhältnis, später jedoch wurde ihre Freude am Theater missbilligt. Mittlerweile hat Giulia das Theater als Regisseurin zu ihrem Beruf gemacht.

Die Erzählerin spürt nicht nur dem Vater, sondern auch den anderen Familienmitgliedern nach und versucht sie zu begreifen. Welche Art Beziehung hatten ihre Eltern miteinander? Wie kamen sie mit der dauerhaften Abwesenheit des Vaters zurecht? Welche Rolle nahmen die einzelnen Kinder ein? Wie sieht Giulias eigene Stellung innerhalb der Familie aus? Anhand der berichteten Episoden ergibt sich für den Leser ein vielschichtiges und interessantes Bild, das bis in die Gegenwart fortgesetzt wird.

Eingestreut werden auch weitere Begegnungen mit Menschen, die eine Tür zu ihrer eigenen Erinnerung öffnen. Giulia ist eine sensible Zuhörerin, bezeichnet sich selbst als Frau des Wortes. Besonders gut gefiel mir ein Satz über das Wesen unserer Erinnerungen:
„Wir beschworen die Geister unserer Kindheit herauf. Man musste sich nur umblicken, schon ließ jeder Gegenstand eine Erinnerung auflodern, die sich wie eine Papiertüte in den Zweigen der Vergangenheit verfangen hatte.“ (S. 228)

„Ein Sonntag mit Elena“ ist ein völlig unaufgeregtes, ruhiges Buch. Aus Fabio Gedas Sätzen strömen leise Melancholie, zarter Humor und nachdenkliche Weisheiten. Er verfügt über eine metaphernreiche, ausdrucksstarke Sprache. Seine Dialoge sind empathisch und glaubwürdig. Es ist nicht die spannende Handlung, die den Leser fesselt, es sind mehr die beschriebenen Begebenheiten, die die verschiedenen Familienmitglieder charakterisieren und das Beziehungsgeflecht untereinander entschlüsseln. Im Mittelpunkt freilich stehen Giulia, ihr Vater und natürlich Elena, mit der der Roman anfängt und endet.

Ein wunderbarer Roman, für den ich mit 5 Sternen meine volle Lese-Empfehlung aussprechen möchte.