Familienheilung

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"Mit dem Älterwerden geht vieles verloren." Er reckte den Schildkrötenhals. "Vor allem Dinge, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben."

Sein ganzes Leben lang war er als Ingenieur in der Welt unterwegs, doch nun ist er in Rente und seit acht Monaten Witwer. An einem herbstlichen Sonntag wagt er sich an die alte Rezeptesammlung seiner Frau und bereitet für seine älteste Tochter und deren Familie eine Festmahl zu. Doch die Enkelin bricht sich den Arm, und er bleibt auf dem vielen Essen sitzen. Bei einem Spaziergang begegnet er Elena und ihrem Sohn Gaston, die er spontan zum Essen einlädt - und diese Begegnung wird nicht nur sein Leben verändern.

In Fabio Gedas Erzähperspektive muss man sich erst einmal hineindenken: Da berichtet die mittlere Tochter, Giulia, von Ereignissen, die Elena und der mittlerweile tote Vater ihr nach über 10 Jahren erzählen. Es ist also durchaus nicht so, dass wir in diesem leisen Roman hautnah an den Figuren dran sind. Vielmehr erleben wir alles durch Giulias Theater-geschultes Auge, durch die Brille ihrer eigenen Emotionen und Kindheitserinnerungen. Einerseits ist das faszinierend, andererseits nimmt es der Geschichte ein wenig die Eigenständigkeit. Wer weiß schließlich nach 10 Jahren noch genau, was er wie zu wem gesagt hat, welchen Wein sie getrunken haben, um wie viel Uhr alles stattgefunden hat? Es ist anzunehmen, dass die Erzählerin sich vieles ausgedacht hat, es geschickt inszeniert hat, damit wir Leserinnen es für wahr halten.

Aber das tut der Geschichte gar nicht unbedingt einen Abbruch. Giulias Kindheitserinnerungen mischen sich unter die Begegnung des Vaters (der irgendwie nie einen Namen bekommt, merkwürdig), und vermitteln ein unscharfes, kindliches Bild davon, wie der Vater vielleicht war. Giulia kreidet ihm seine häufigen Abwesenheiten an, die Geliebte in Venezuela, die Einsamkeit der Mutter, die es karrieremäßig richtig zu etwas hätte bringen können - sich aber ohne Murren ganz der Familie verschrieben hat. Sie erzählt kurz und knackig von ihren Geschwistern, von den Eigenarten des Umgangs miteinander. Aber irgendwie verpasst der Autor es, mir ein genaues Bild der innerfamiliären Spannungen zu liefern. Es sind Eindrücke, flüchtige Begegnungen, im Grunde nichts Ungewöhnliches - man arrangiert sich eben. Und dabei wirkten die Eltern nicht einmal unglücklich. Giulia gibt auch zu, alles immer durch eine inszenatorische Brille wahrzunehmen, Menschen Dinge anzulasten, die eigentlich nur ihrer Fantasie entsprungen sind. Es wird deutlich: So richtig miteinander geredet hat diese Familie wohl nie.

Der Vater ist dabei gar kein unsympathischer Typ, im Gegenteil. Vor allem nach dem tragischen Tod seiner Frau ist er völlig auf sich zurückgeworfen . allein in einer Wohnung, in der normalerweise drei Kinder und Marcella auf ihn warteten. So hat er sich die Rente nicht vorgestellt. Er wollte all das nachholen, was er in den Zeiten seiner Abwesenheit verpasst hat. Aber genauso läuft das Leben eben nicht, es lässt sich nichts auf später verschieben. Das ist wohl auch die Kernaussage des Romans: Jeder stirbt, alles ist vergänglich, Einsamkeit ist eine Krankheit, und der Tod eines geliebten Menschen kann einem die Seele aus dem Leib reißen. Aber man kann auch weiterleben, egal, wie unerwartet der Tod kam, und eine Familie kann heilen.

Keinen geringen Anteil an der Heilung von Giulias Familie hat Elena, die trotz des Titels (auf Italienisch übrigens einfach Una Domenica - Ein Sonntag) nur sehr wenig Raum in der Geschichte einnimmt. Giulia berichtet nur von dem einen Sonntagnachmittag, den ihr Vater mit Elena und dem 12-jährigen Gaston verbracht hat, über die späteren Besuche erfährt man nichts. Auch diese kleine Familie hat einige schwere Päckchen zu tragen, und auf ganz subtile Weise helfen sich der Vater und Elena gegenseitig - sie ihm dabei, sich selbst und den anderen zu verzeihen und sich aktiv um seine Familie zu bemühen; er ihr dabei, eine neue berufliche Perspektive zu finden und das Muttersein nicht so eng zu sehen.

Die Geschichte findet auch einen schönen Abschluss, der erstaunlich rund und klischeefrei daherkommt. Das Buch lässt sich wunderbar leicht lesen, einige Gedanken sind einen zweiten Blick wert, und das feine Happy End (trotz diverser Todesfälle, die die Geschichte thematisiert) hinterlässt ein warmes Gefühl. Dennoch würde ich nicht sagen, dass die Geschichte bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird - dafür war sie einfach zu unkonkret. Ein schönes Sommerbuch für einen entspannten Sonntag.