Der unaufhaltsame Countdown

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Genf. Sophie und Arpad Braun leben mit ihren Kindern das perfekte Leben in einer Villa am Genfer See. Sie haben alles: Familienglück, Wohlstand, Gesundheit. Jedenfalls wollen sie diese Fassade aufrechterhalten. Arpad hat niemanden erzählt, dass er bereits vor Monaten aus seinem Job bei der Bank entlassen wurde und er zu außergewöhnlichen Mitteln greifen muss, um die monatlichen Rechnungen zu bezahlen. Sophie ist Anwältin und vertritt einen Schweizer Bankier. Sie ahnt von den Machenschaften ihres Mannes nichts.

Joël Dicker hat seinen siebten Roman erneut in seiner Heimatstadt Genf platziert. Er zeichnet uns Lesern ein Bild von einer perfekten Familie, die scheinbar alles hat. Allerdings wird mit den ersten Zeilen auch ein Juwelenraub beschrieben, der ganz offensichtlich etwas mit dieser Familie zu tun hat. Außerdem haben sie einen unerwünschten Beobachter. Das sind alles Elemente, die neugierig machen. Natürlich stellen sich Fragen, wieso ausgerechnet Sophie heimlich beobachtet wird, und was es mit Arpads Vergangenheit auf sich hat. Wie gewohnt ist die Ausgangssituation nahezu alltäglich; sie wird später mit jedem weiteren Kapitel rätselhafter. Außerdem kennen versierte Leser bereits den zeitlichen Countdown. Diese Chronologie wird unterbrochen von Rückblicken, aus denen weitere Informationen über die Figuren ersichtlich werden. Es sind allerdings nie genügend, um zu früh zu wissen, was sich hinter den Aktionen verbirgt. Dicker ist ein echter Meister der Plottwists.

Luxus, Lügen und ein dunkles Geheimnis
Die komplexe Handlung hat eine übergeordnete Erzählperspektive. Mit dieser Sicht fühlt man sich selbst beim Lesen wie ein Beobachter. Der Nachteil ist, dass man für die Figuren nicht so leicht Empathie aufbauen kann. Natürlich kann man die Bedrohung durch den Stalker nachfühlen, aber bei kleineren Straftaten, die zur Finanzierung des Luxuslebens dienen, relativiert sich das schon. Dann fühlt man sich den Nachbarn gleich viel näher, die zwar eine Freundschaft zu den Hauptfiguren pflegen, aber keineswegs gleichgestellt sind. Der Grat zwischen Bewunderung und Neid ist hier sehr schmal dargestellt. Für die Beziehungen der Figuren untereinander wendet Dicker genügend Szenen auf, dass sich die Leser ein Bild machen können. Auch hier ist es eher eine Alltagssituation als etwas Besonderes. Vorantreibend ist aber eindeutig das Versprechen auf einen Raubüberfall. 20 Tage muss man sich lesend gedulden. Bei mir waren es in der Realität gerade mal zwei, bis ich auf der letzten Seite ankam.

Joël Dicker beweist mit Ein ungezähmtes Tier erneut sein Talent für komplexe Romane voller Rätsel und Wendungen. Was zunächst wie eine perfekte Familienidylle am Genfer See wirkt, entpuppt sich schnell als trügerische Fassade aus Lügen, finanziellen Abgründen und kriminellen Machenschaften. Der raffinierte Countdown und geschickt platzierte Rückblenden lassen keine Langeweile aufkommen, während die Figuren zwischen moralischen Grauzonen und existenziellen Ängsten balancieren. Es ist ein fesselnder Pageturner und damit ein unbedingter Lesetipp.