Raffiniert aufgebauter Spannungsroman

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REZENSION – Mit seinem raffiniert aufgebauten Spannungsroman „Ein ungezähmtes Tier“, im Februar beim Piper Verlag erschienen, hat der französischsprachige Schweizer Schriftsteller Joël Dicker (39), der 2012 durch seinen in 30 Sprachen übersetzten Bestseller „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ international bekannt wurde, erneut einen Roman vorgelegt, der das Zeug zum internationalen Bestseller haben dürfte. Es ist die filmreife Geschichte um zwei benachbarte Ehepaare in Genf und einen geplanten Juwelenraub, die nach stetig steigender Dramatik und mehrfachen unerwarteten Wendungen schließlich mit einer überraschenden Lösung abschließt.
In einer Rahmenhandlung werden die Tage bis zum sorgsam geplanten Überfall auf ein Juweliergeschäft heruntergezählt. Währenddessen bereitet Sophie Braun, die mit ihrem wohlhabenden Ehemann Arpad ein teures und supermodernes Eigenheim am Genfer See bewohnt, die große Feier zu ihrem 40. Geburtstag vor. Das Paar scheint nicht nur beruflich finanziell erfolgreich, sondern auch ein vorbildliches und verliebtes Ehepaar zu sein. Doch wie sich allzu bald herausstellen wird, ist alles mehr Schein als Sein. Was verbirgt sich also hinter der schillernden Fassade dieses privilegierten Paares? Ihr Nachbar Greg, Leiter eines mobilen Polizei-Einsatzkommandos, der mit Ehefrau Karine ein fast klischeehaft bescheidenes Beamtenleben in einem einfachen Reihenhaus führt, zugleich aber von der erotischen Ausstrahlung seiner attraktiven Nachbarin besessen ist, spioniert das mondäne Paar mit unerlaubtem Lauschangriff und Minikamera bis ins Schlafzimmer aus. So glaubt er bald, einem bevorstehenden Verbrechen auf die Spur gekommen zu sein.
Der häufige Perspektivwechsel zwischen dem Countdown zum Juwelenraub, der für durchgängig anhaltende Spannung bis zur erhofften Aufklärung sorgt, und der eigentlichen Romanhandlung, die zusätzlich durch kurze Rückblenden wiederholt unterbrochen wird, bringt einerseits Tempo in die Geschichte, zwingt aber andererseits auch dazu, ständig weiterlesen zu müssen, um inhaltliche Zusammenhänge zu erkennen und nicht den Faden zu verlieren. Die kurz eingeblendeten Vorgeschichten stören hier allerdings wenig, sondern helfen vielmehr, die Protagonisten in ihrem Charakter kennenzulernen und ihr gegenwärtiges Handeln besser verstehen zu können.
Eine gewisse Spannung bewirkt der Autor auch durch die Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Paare, die sich trotz aller Gegensätze als Nachbarn anfreunden. Man ahnt aber von vornherein, dass sie sich im Grunde doch nur selbst etwas vorgaukeln, da sie nicht wirklich zueinander passen. Unweigerlich bauen sich Spannungen und Konflikte zwischen den Paaren auf, die in fortschreitender Handlung erwartungsgemäß eskalieren müssen.
Joël Dicker versteht es meisterhaft, jenseits der vordergründigen Handlung die so verschiedenen Charaktere seiner Protagonisten Kapitel für Kapitel psychologisch zu vertiefen, so dass dadurch ihr Handeln nachvollziehbar wird und sich auch die überraschenden Wendungen in der Folge erklären lassen. „Ein ungezähmtes Tier“ handelt von der ungezähmten Triebhaftigkeit der Figuren, von Machtstreben und Neid, Liebe und Verrat, Leidenschaft und Obsession und nicht zuletzt von der Frage, was uns Menschen antreibt und wie weit wir gehen würden, wenn uns die Kontrolle über uns selbst und unser Handeln entgleitet.
Sieht man von wenigen zu vernachlässigenden Schwachpunkten ab und verzeiht den vermeidbaren redaktionellen Fehler, dass das schillernde Ehepaar in der deutschen Übersetzung statt Braun an anderen Textstellen Brown genannt wird, ist „Ein ungezähmtes Tier“ ein spannender, zunehmend temporeicher und intelligent aufgebauter Roman mit interessanten Charakteren und psychologischem Tiefgang. Wer das Buch zu lesen begonnen hat, wird es nur schwer wieder zur Seite legen können.