Eine Geschichte über den Glauben... und die Liebe

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singstar72 Avatar

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Eine geschlagene halbe Stunde habe ich nach Beendigung der Lektüre dagesessen, ohne mich zu rühren. Das Buch klang nach; die Bilder schimmerten. Ich blieb noch eine Weile bei diesen liebenswerten Charakteren, mit denen ich gerne mehr Zeit verbracht hätte. Eines kann ich sagen… dieses Buch auf das Thema „Glaube“ zu reduzieren, wäre geradezu ein Verbrechen! Es ist viel mehr als das. Es ist vor allem eine Liebeserklärung an das ländliche Amerika. Und eine zu Herzen gehende Schilderung der Liebe eines Großvaters zu seinem Enkel.

Genau damit beginnt auch das Buch. Es beginnt plaudernd, in der trägen Stimmung eines warmen Nachmittags. Der Großvater besucht mit seinem Enkel den Friedhof – nicht etwa ein Ort, vor dem einer von ihnen Angst hätte. Nein, Tod und Leben gehören in diesem Buch eng zueinander. Nach dem Friedhof besuchen sie noch des Opas besten Freund, der schwer krank ist. Und zum Schluss gibt es gutes Essen bei Oma. Erste Wölkchen ziehen für den Leser erst auf, als die Mutter des Kindes darauf besteht, vor dem Essen zu beten. Hier merkt man, dass sich ein zentraler Konflikt anbahnt.

Ich widme mich so ausführlich der Einleitung, weil das ganze Buch so gehalten ist. Es ist voller Szenen aus dem ländlichen Leben Wisconsins. Es spielt zu weiten Teilen auf Obstplantagen, Landstraßen, auf Veranden und an Esstischen. Der Autor vermittelt eine große Liebe zu diesem Landstrich und seinen Bewohnern. Ich konnte die Kaminfeuer riechen, und hätte liebend gern mit den Menschen ein Chili gegessen, oder ein Root Beer getrunken… geschweige denn Pfannkuchen mit Ahornsirup oder Käsekuchen genossen…!

Die Atmoshpäre ist aber weit mehr als nur Kulisse. Der Protagonist, Lyle, der betroffene Großvater, entstammt nun mal diesem Milieu. Hier formten sich sein Denken und sein Charakter. Und hier liegen auch die Wurzeln seines Glaubens. Ein beschädigter Glaube zwar, aber doch ein suchender, ein ringender. Sein Cousin wurde Missionar, und ein alter Jugendfreund ist heute Pfarrer in seiner Heimatgemeinde. Glaube bedeutet für Lyle Tradition, Wärme, Zusammenhalt. Es bedeutet auch, zu fragen, und im Extremfall seinen Freund spät nachts aufzusuchen.

Die Katastrophe schleicht sich langsam ins Buch. Shiloh, die alleinerziehende Tochter Lyles, hat sich einer extremen Glaubensgemeinschaft angeschlossen. Aus Höflichkeit besuchen Lyle und seine Frau die Gottesdienste. Doch unwohl ist ihnen dort von Anfang an. Die Dinge eskalieren erst, als der Enkel schwer krank wird. Doch Shiloh und ihre Gemeinde leugnen dies – sie halten die angebliche „Krankheit“ für einen dämonischen Einfluss, der von den Großeltern ausgeht. Und der somit durch Glaube und Gebet besiegt werden kann.

An dieser Stelle bin ich dem Verlag mit seinem Klappentext ein wenig böse. Denn wie so oft, wird der zentrale Konflikt ein wenig überdramatisiert. Es ist nicht so, dass von heute auf morgen ein dramatischer Showdown stattfände. Das ganze Buch hindurch schwankt der Großvater. Er beißt die Zähne zusammen, damit er seinen Enkel überhaupt noch sehen darf. Die Handlung wird dabei auf eine symbolische Ebene verlagert. Die inneren Konflikte spiegeln sich wider in den Dingen, die der Opa erlebt. Er arbeitet auf einer Obstplantage, liefert Äpfel an einen Supermarkt, oder begleitet seinen besten Freund in seiner Krebserkrankung. Hier wird vom Leser durchaus teilweise Geduld gefordert.

Erst ganz zum Ende muss der Großvater eine Entscheidung treffen. Ich will hier nicht vorgreifen – aber ich empfinde das Ende als angenehm offen. Falscher Glaube wird zwar entlarvt – aber was wird aus dem Enkel? Man darf als Leser hier interpretieren. Der Autor wählt ein wunderschönes Symbol für die weiter bestehende Hoffnung: einen Apfelblütenzweig!

Neben dem teilweise offenen Ende finde ich schön, wie der Roman fast wie nebenher weitere Themen bearbeitet, außer der „Glaubensfrage“. Mehrfach gibt es außereheliche Kinder. Es geht um das Aussterben von ländlichen Gemeinden. Um den Fortschritt, der Teile gewachsener Kultur zerstört. Es geht auch um Freundschaft und Zusammenhalt. Um streitende ältere Ehepaare, die sich dennoch lieben. Aber auch um gutes Essen und Gemütlichkeit.

Ich würde das Buch insgesamt als einen „gehobenen Wohlfühlroman“ bezeichnen. Man kann, wenn man will, das Glaubensthema auch eher am Rande belassen, und sich auf die Schilderung des ländlichen Lebens konzentrieren. Der Autor zwingt einem hier keine Meinung auf, was ich als angenehm empfand. Oder man kann das Buch aus der Warte „Großvater und Enkel“ lesen. Der Wert des Buches erschöpft sich jedenfalls nicht auf einer einzigen Ebene. Die unaufgeregte, aber dennoch poetische Sprache tut das ihrige dazu. Ich bin jedenfalls vollkommen begeistert.