Auf den Hund gekommen
Obdachlos. Kein Dach über dem Kopf. Was bei den zur Zeit herrschenden Temperaturen wie ein Freiluft-Abenteuer anmutet, wird spätestens im Herbst und Winter zur oft tödlichen Realität. Erst vor kurzem lief im Fernsehen eine Reportage von Günter Wallraff, der sich einen Winter lang selber in die Obdachlosigkeit begab um das Leben dieser Menschen außerhalb unserer Gesellschaft zu dokumentieren. Vieles was ich damals in dem Fernsehfilm gehört und gesehen habe, las ich jetzt in “Ein Winter mit Baudelaire” wieder. Ein Happy End gibt es jedoch nur im Roman von Harold Cobert.
Philippe hat über seine Verhältnisse geheiratet. Jetzt ist die Ehe geschieden und seine Frau möchte ihn am liebsten spurlos aus ihrem und dem Leben der gemeinsamen Tochter Claire löschen. Sie wirft ihn aus der Wohnung und verweigert ihm das Besuchsrecht für die sechsjährige solange er keine eigene Wohnung hat. Die Wohnungssuche gestaltet sich aussichtslos. Philippe hat nur einen befristeten Arbeitsvertrag und keine Bürgschaft. Der Druck nimmt zu, sein Erfolg als Handelsvertreter unter diesem Stress ab. Als ihm auch noch ein großer Kunde von einem Kollegen weggeschnappt wird, kündigt er. Ohne Arbeit und festen Wohnsitz tingelt er von Hotel zu Hotel. Er lebt von seinen Ersparnissen bis seine Bankkarte eingezogen wird. Mit dem letzten Bargeld bezahlt er das Hotel und steht dann mit einem Koffer und einem Müllsack auf der Straße.
Der erste Teil des Buches ist weniger ein Roman, als ein knallharter Tatsachenbericht. Cobert präsentiert nüchtern die Entwicklung vom in Sicherheit lebenden Familienvater zum obdachlosen Penner. In kurzen Kapiteln mit fast Stakkatohaften Sätzen schildert er den Absturz Philippes. Dieser rational orientierte Teil degradiert den Leser zum nüchternen Betrachter. Cobert verzichtet völlig auf Hintergrundinformationen, die uns Philippe als Person mit einer speziellen Vita näherbringen. Ich habe den menschlichen Faktor vermisst und das Buch innerlich schon abgeschrieben. Weil es so kurz war, las ich weiter.
Das hat sich gelohnt. Mit dem Auftauchen des Hundes ändert sich der Ton der Geschichte. Philippe ist schon ganz am Ende der Spirale angekommen, als ihn ein streunender Hund aus einer brenzligen Situation rettet. Die beiden leben von da an gemeinsam auf der Straße. Durch Baudelaire ändert sich die Lage. Der Hund öffnet die Herzen und Geldbeutel der Passanten. Und ermöglicht es Philippe auf dem Schiff “Le Fleuron” unterzukommen, ein Obdachlosenasyl für Hundebesitzer. Dort erhält er soziale Hilfe und anwaltliche Unterstützung. Kapitel und Sätze bleiben auch in diesem Teil kurz und bündig, der Inhalt aber wird hoffnungsvoller.
Was diesem Buch meiner Meinung nach fehlt ist die Einfühlsamkeit. Mehrere Kapitel bestehen hauptsächlich aus Verben und Substantiven: “Essen, Schlafen, Trinken, Sauber bleiben” oder “Pennen, Waschsalon, Pinkeln, Caritas, Kacken, Schnorren, Würde bewahren”. Das klingt so derb wie es der drastischen Situation angemessen ist, aber es ist nicht bildlich, nicht anschaulich genug.
Vor kurzem habe ich den Krimi “Hundszeiten” von Felicitas Mayall gelesen. Er spielt im Obdachlosenmilieu in München. Mayall schafft das, was Cobert nicht gelungen ist. Man kann sich in die Situation einfühlen. Spürt den Durst, fühlt den Schmutz, riecht den Gestank, hat Angst vor der Gewalt und leidet unter der Teilnahmslosigkeit. Cobert bittet am Ende des Buches um Unterstützung für verschiedene Obdachlosenhilfsorganisationen. Das ist edel und begrüßenswert. Und führt im einen oder anderen Fall sicher auch zum gewünschten Resultat. Für sein großes Ziel, die Augen nicht mehr von Pennern und Obdachlosen abzuwenden, ist sein nüchternes Werk jedoch zu schwach. Eher ist man nach der Lektüre geneigt, einen streunenden Hund aufzunehmen.