um der geschärften Wahrnehmung willen

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anonymous Avatar

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 Eine Reportage über den Umbau eines alten Kahns ( Fleuron Saint Jean) zur Herberge für Obdachlose mit Hund beeindruckt den Autor, trifft auf seine Erinnerungen an literaturwissenschaftliche Studien zu Baudelaire-Sätzen und schon ist die Idee zum Sozialroman geboren **:** in einer Aneinanderreihung von Bildern nehmen wir teil am sozialen Abstieg eines Durchschnittsfranzosen (Familienvater, Ehemann) :Ehe kaputt- Job weg -Obdach weg..von der Frau im Zuge der Scheidung auf die Straße gesetzt folgt der Mann _“den Windungen der Straße und den Zufällen der Abzweigungen“(p18)_ durch das einförmige Grau der Pariser Vororte. Schnell gerät er in den Sog der soziale AbwärtsSpirale , bis zum Tag an dem er- der herumirrende Held- zu seinem Glück « Baudelaire »trifft-den streunenden Hund mit emotionaler Kompetenz; in dessen Begleitung ,im Kontakt zu dessen Instinkten und vorbildlichem Überlebenswillen schafft es Philippe, sich aus der Spirale zu befreien- er probt das Glück mit der Promenadenmischung-ganz im Sinne des Baudelaire-Zitates: « _Prends-moi avec toi, et de nos deux misères nous ferons peut-être un espèce de bonheur_! »

     **A** ls roter Faden zieht sich der Appell durch den Roman: die Randständigen der Gesellschaft-möge man sie **nicht mehr ansehen _ohne_ sie zu sehen** und sich das teilnahmslose mechanische Lächeln verkneifen!

     **D** ie Monotonie des Obdachlosenlebens, in dem Zukunft und Vergangenheit zerfallen_,_

dieser öde RhythmusderStraße, er spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen:

**-** Wiederholungen aufs Wort von Kapitelüberschriften(der fahle Morgen,p23,p175),

**-** Wiederholungen von ganzen Szenen(immer wieder Mitreisende in der Metro, die sich gegenüber dem Elend verschließen, wegsehen, abweisen, den Walkman lauter stellen

  **-** die Vorstellungsroutinegespräche: immer wieder fast identische Formulierungen(p92/262)

**-** die wiederholte Szene(p38/98)um das eingefrorene Lächeln des rotgelben

 McDonald -Clowns oder

**-** ein Kapitel das zu einem Staccato von Wörtern und Gedanken reduziert ist, die sich gebetsmühlenartig wiederholt aneinanderreihen unter dem Motto _les jours s‘en vont je demeure._ (p180).Das  einzigen Ziel ist zu überleben und die Würde zu bewahren(p119).

     **V** on all diesen Reaktionsmechanismen getrieben erleben wir Philippe mit einer merkwürdig blassen Persönlichkeit **:** so fahl wie der Morgen auf Seite 23, ein seltsam schwacher Charakter, er wehrt sich nur sehr wenig gegen den Sog des sozialen Abstiegs- umständehalber in der extremen Situation-als die Tochter an Ihrem Geburtstag unerreichbar, unbekannt verzogen ist…da hat ihn die Krake Alkohol( p179)-

 er kommt (ohne Geld)mit einer Flasche billigen Tischweins aus dem Supermarkt.

 Mehrere Kapitel enden damit dass er die Augen schließt(vor der Realität? vor dem Elend?)hilflos und verdrängend.

Nur 2x an entscheidenden Stellen(als die alte Freundschaft zu Jérôme nicht trägt, p77 und

als der Kontakt zur Tochter unterbrochen ist p179)ist er zu Emotionen fähig, er weint.

Ihm fehlt die überlebensnotwendige Aggressivität wie sie sonst üblich ist in Obdachlosenkreisen. Umso stärker ist für einen solchen Obdachlosen-Anfänger die Demütigung, weil er nichts dagegen zu setzen hat- er wehrt sich zu wenig- nur einmal beim Kampf mit den Kumpels um die Schlafplatzrechte setzt- er nach Hundeart-seine Duftmarken zur Verteidigung. Ansonsten lässt er sich retten: von Hund + Crepes-+ Kebap-Verkäufer +

LE-FLEURON – Team.

Die Kompetenz des Hundes bei dieser Rettung scheint mir etwas unwirklich überhöht; mag sein, dass Hunde zur Empathie fähig sind aber dass sie psychische Situationen erfassen und daraus eigene  Strategien entwickeln wie das Aufzeigen leeren Wohnraums…?

     **D** ie Dringlichkeit seiner sozialkritischen Schilderungen steigert der Autor noch mit vielen ausdrucksstarken Wortschöpfungen …und Verfremdungen…_sourire immobiliers_ /sourire de vitrine_/effet papillon/lent dehors u.a._ Erst im letzen Drittel des Romans, parallel zur Normalisierung der Lebenssituation von Philippe genügt das durchschnittliche Vokabular.

Zum zentralen Begriff wird das Lächeln (ein Instrument zur wortlosen Kontaktaufnahme) je nach beigefügtem Adjektiv ist die Situation in 2(!) Worten beschrieben z.B.

 _mechanisches_ Lächeln (p32)mit dem der Chef die  Kündigung androht

_verkrampfte_ Lächeln des Maklers (p48)/_Schaufensterl_ächeln(p49)/Kulissenlächeln (p49)

_schmale_ Lächeln (p88)/e_ingefrorene_ Lächeln (p98)/_aufrichtiges_ Lächeln (p113)

_ehrlich und spontane_ Lächeln (p139)_gewollt strahlendes_ Lächeln des

Anzug-Krawatte-Typs (p193)_unbefangenes_ Lächeln( p196) usw.

     Ferner zu erwähnen sind diverse wirklich Film-reife einprägsame Szenen(da merkt man dass der Autor auch fürs TV arbeitet)-hier 2 Beispiele:

1. im Horror-Obdachlosenheim auf dem Fernsehschirm flimmern Bilder einer Demonstration von Pariser Promis, die gegen das Erfrieren von Pennern _theoretisch_ polemisieren und _halbherzig_ einen Sachverständigen(!)Ausschuss gründen derweil es in LA BAPSA die Meute der Betroffenen zu Johlen und Hohngelächter treibt, ob dieser Halbherzigkeit und Ineffizienz.

2. In der Metro wo zahlreiche Artgenossen von Philippe  aggressiv die Passanten anbetteln steht er einfach nur an der Tür mit seinem Hund und rezitiert immer wieder das Baudelaire-Gedicht(das auch dem Roman vorangestellt ist) bis sich die ersten Gesichter der Fahrgäste öffnen ..

      **L** eider kommt die Übersetzung dem Original nicht immer so nahe wie geboten **.**

Ungewöhnliche Wortschöpfungen im Original werden meines Erachtens nuancenarm übertragen [z.B. _sourire de vitrine_ wird zu Schaufensterlächeln p49- was ist das? ist nicht eher das zur Schau gestellte Lächeln gemeint ?];etliche Anspielungen gehen bei der Übertragung verloren so z.B. das Spiel mit dem Wort “chien“ (dem so bedeutsamen Hund )-

 es verschwindet in den deutschen Überschriften spurlos:

P20 _être couché en chien de fusil_

P237 _entre chien et loup_

_P205 une vie de chien_

P209 _chienne de vie_

Wird dann “_pas la_ gueule ouverte“  p181 zu “nicht elendig und einsam“ dann schwindet das Vertrauen des Lesers endgültig, alle sprachlichen Feinheiten überliefert zu bekommen.

Zugegeben: auch in der deutschen Fassung  wird schon die melancholische Poesie des Autors  vermittelt wenn auch manchmal eher nachempfunden als übersetzt.

**     I** m Roman mischen sich Sozialkritik, melancholische Poesie und die Hoffnung, den Leser anzustoßen zum nachdenken über das alltägliche Leben  der Schutzlosen und die Zerbrechlichkeit der  “force de la vie“. Gut dass es Einrichtungen mit Engagement wie

LE FLEURON gibt und nicht nur den städtischen Obdachlosenstaubsauger LA BAPSA in Nanterre und gut dass es einen Harold Cobert gibt , der so poetisch an den Leser appelliert: kein _mechanisches Lächeln_ für die Passagiere von LE FEURON, bitte-

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