Keine Heimat

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gkw Avatar

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Ihr Vater ist ein Halbchinese, der mit den Jahren fast gar nichts mehr redet. Ihre Mutter ist eine Deutsche, die permanent bedauert, nicht ihren früheren Freund geheiratet zu haben. Die Bedingungen, unter denen Sigrid in den 50er/60er Jahren in Sozialbausiedlungen in New York aufwächst, sind nicht die Besten. Alle fühlen sich nicht "zu Hause" in ihrem Leben. Wie soll sie da ihren Platz finden? Sie sucht ihn beim Ballett oder auch bei russischen Immigranten.
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Das Buch ist autobiographisch und erzählt in vier großen Abschnitten von dem, was die Autorin aus eigener Sicht maßgeblich geprägt hat: der Vater, die Mutter, das Tanzen, der Freund.
Ihr Vater kam im Alter von 13 Jahren in die USA, nach dem 2. Weltkrieg lernte er in Deutschland seine spätere Frau kennen, sie wurde schnell schwanger. 1948 gingen sie in die USA. Auch nach Jahrzehnten kann er noch nicht wirklich englisch. Er verstummt immer mehr, anfangs spricht er wenig, später fast gar nichts mehr. Er arbeitet viel, doch wofür? Was Frau und Kinder ihm bedeuten, ob sie ihm etwas bedeuten, wird nicht klar. Zwar hat er eine Familie, doch bleibt er einsam und allein. Ein rätselhafter, sonderbarer Mann, den ich aber doch sehr mochte.
Das zweite Kapitel ist der Mutter Christa gewidmet. Die Mutter findet alles deutsche dem amerikanischen haushoch überlegen und verklärt das nationalsozialistische Deutschland, wo sie aufwuchs. Sie ist mit ihrem Leben unzufrieden, ebenso mit ihrem Mann. Aber sie hat auch andere Seiten: sie kümmert sich um verletzte Tiere, kann verendende Pflanzen wieder aufpäppeln und ist eine Meisterin bei jeglichen Handarbeiten. So mochte ich diese eigenartige Frau dann mit der Zeit doch, als ich sie besser kennenlernte.
Im dritten Kapitel, das ebenso wie der Roman heißt (ein Zitat von Hildegard von Bingen), steht Sigrids Ballettzeit im Mittelpunkt. Hier versucht sie ihrer Familie, ihren Ängsten, ihrem Anderssein zu entfliehen.
Das vierte Kapitel erzählt von ihrer Zeit mit dem Russen Vadim. Sigrid gibt Englischunterricht für Ausländer und lernt ihn da als Schüler kennen. Keiner weiß, was sie an ihm findet, sie selbst weiß es am wenigsten. Er ist verheiratet und ein eher zwielichtiger Typ, wahrscheinlich kriminell, aber er macht ihr auch die schönsten Liebeserklärungen, die sie je gehört hat.
Das Buch erschien 1995 und wurde nun erstmalig in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht.

Sigrid Nunez blickt zurück auf die wesentlichsten Menschen und Erfahrungen, die sie zu der haben werden lassen, die sie nun ist.
Sie erzählt kurz und nüchtern, manchmal melancholisch, selten auch mit leichter Ironie, und es gelingt ihr, beim Leser große Nähe zu den vorgestellten Personen zu entwickeln.

Das Buch handelt in erster Linie von der Heimatlosigkeit und vom Fremdsein - im Land wie auch in der Familie. Es handelt von der Suche nach Identität und dem eigenen Weg und davon, ob und wie die Vergangenheit (meine wie auch die meiner Vorfahren) das Leben prägt und beeinflusst.

Fazit
Insgesamt ein sehr gut erzähltes Buch über das Aufwachsen zwischen verschiedenen Kulturen und das Gefühl von Heimatlosigkeit und verpasste Gelegenheiten.
Da dies mein erstes Buch von Nunez war, kann und werde ich die anderen nun gerne "nacharbeiten".